Predigt Bischof Reinhart Guib (Apg. 6,1-7)
Bistritz, 14. IX. 2014
Liebe Bistritzer von nah und fern, liebe Brüder und Schwestern aus dem Nösner Land, Reener Ländchen und aus der Bukowina, liebe Nord- und Südsiebenbürger, liebe Partner und freunde aus Wels und Wiehl, liebe Gedenkgemeinde!
Dies Wochenende in Bistritz sind wir gerufen zu einer Begegnung mit der Geschichte – mit der Geschichte der Evakuierung vor 70 Jahren, also unserer Geschichte, mit der Geschichte heute, den Menschen, Ereignissen und Orten von heute und mit der Geschichte der ersten Christengemeinde, davon wir lernen können.
Die Begegnung mit der Geschichte ist immer eine erschütternde Begegnung, weil sie von Schuld und Verletzungen, schweren Entscheidungen und harten Schlägen, Überlebenskampf, Zweifel und Hoffnung gekennzeichnet ist.
Vor 2000 Jahren war die erste christliche Gemeinde in Jerusalem vor einem Wendepunkt. Was ist zu tun, dass die Gemeinschaft nicht auseinander bricht zwischen hebräischen und griechischen Judenchristen? Die Witwen der einen wurden nicht versorgt wie es bei den anderen war. Die Apostel waren überfordert sich auch um die leibliche Versorgung der Armen zu kümmern, so dass Unzufriedenheit, Unmut, Uneinigkeit sich breit machten. Die Gemeinschaft war herausgefordert, eine Entscheidung zu fällen. So taten sich alle Apostel zusammen und rangen um eine Lösung. Und sie fanden sie, weil Gottes Geist bei ihnen war. Es brauchte weitere Mitarbeiter, sieben an der Zahl aus der Reihe der Benachteiligten, um die Witwen und Armen insgesamt zu versorgen. Mehr Mitdenker, mehr Mitarbeiter war die Lösung. Die christliche Gemeinschaft war gerettet. Die Geschichte der jungen Christenheit war nicht schon Geschichte, sondern am Anfang eines Jahrhunderte währenden Weges unter Gottes Segen.
Vor 70 Jahren stand die evangelische Gemeinschaft in Bistritz, Sächsisch-Regen und weiteren 50 Gemeinden in Nordsiebenbürgen und zum Teil Südsiebenbürgen auch vor einem Wendepunkt. Was ist zu tun, dass die Gemeinschaft nicht zugrunde geht angesichts des Vorrückens der Roten Armee? Und auseinender bricht? Zu rasant ging alles, zu wenige konnten in die Entscheidung miteinbezogen werden. Schnell stellte sich heraus, dass man mit der plötzlichen Evakuierung den großen Teil der Gemeinschaft auf seiner Seite hatte, aber ein kleiner Teil mit der Entscheidung nicht erreichen konnte.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen spaltete sich die Gemeinschaft in einer wesentlichen Frage – wo sie die Zukunft für sich sahen? Was aber sowohl die Dagebliebenen als auch die Weggezogenen gemeinsam hatten und nicht aufgaben waren die Werte, die sie verbanden; der Glaube, die Frömmigkeit, der Gemeinschaftssinn, die Kirchennähe, die nachbarschaftliche Nächstenhilfe, die gemeinsame Geschichte, die Bildung, die Traditionen. Diese hielten sie am Leben, waren ihnen Halt und Hoffnung zugleich – halfen ihnen zu einem Neuanfang in Österreich, Deutschland und hier in Siebenbürgen. Nirgendwo war der Neuanfang leicht, sondern beschwerlich. Die Erfahrungsberichte, die wir gestern bei Rundtisch über die Evakuierung, Ankunft, Rückkehr und Aufbau eines neuen Lebens hörten, waren mit Hunger und Kälte, Angst und Sorge, Not und Leid, Abschied, Tod und Trauer, Fremdsein und Schikanen gepflastert. Betroffen machen diese Erlebnisberichte, wie die historische Ausstellung „Flucht ins Ungewisse“ und die präsentierte Filmpremiere zur Evakuierung. Die große Zahl der Betroffenen, 36.000 Evakuierte und 6.000 Rückkehrer und Hiergebliebene, sowie die einzelnen unterschiedlichen Schicksale machen uns das Ausmaß und die Tiefe dieses Dramas bewusst. Wie viele andere Völker und deutsche Volksgruppen, waren auch die Siebenbürger Sachsen zum großen Teil dem Nationalsozialismus verfallen, was Verwerfungen und Verschiebungen von Gemeinschaft zur Gefolgschaft, vom Miteinander zum Führerprinzip, von Disziplin und Ordnung zum Drill zur Folge hatte. Erst als es ums nackte Überleben ging, wachten unsere Leute auf und kehrten zur Gemeinschaft mit dem wahren Gott, zum nachbarschaftlichen Miteinander und zur organisierten, gemeinsamen Ordnung – auch auf dem Treck und erst recht in Deutschland, Österreich und Rumänien, dem neuen bzw. alten veränderten Zuhause zurück. In der verzweifelten Lage wurde wieder der Gott des Lebens und der Versöhnung, der Liebe und Barmherzigkeit angebetet. So bewahrte der himmlische Vater die Trecks, das neue Leben in Österreich, Deutschland und Siebenbürgen und dafür dürfen wir heute Dank sagen und Gott loben. Auch für den Dienst der Pfarrer, Lehrer und Ärzte, die wesentlich mit beigetragen haben zum Überleben und Bleiben in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander.
Heute, nun 70 Jahre später, erinnern und gedenken wir der dramatischen Ereignisse von damals, die unsere Geschichte anderes geschrieben haben. Wir erkennen: Was 1944 in Nordsiebenbürgen begonnen hatte, setzte sich in den 70-er und 80-er Jahren und besonderes nach der Wende von 1989 durch den Massenexodus der südsiebenbürgischen Gemeinden fort. Gerade die Gemeinschaft, um die es den Aposteln ging, sie wieder herzustellen durch die Berufung der sieben Armenpfleger, gerade die Gemeinschaft, die uns Siebenbürger Sachsen besonderes auszeichnet, brach noch stärker auseinander. Es mussten 70 Jahre bzw. 25 Jahre vergehen, damit wir lernen: Es geht nicht darum, wegen der entzweiten Gemeinschaft zwischen Ausgewanderten und Dagebliebenen die Schuld einander zuzuschieben. Es geht auch nicht darum, einander das Vertrauen aufzukündigen. Sondern es geht um die Erneuerung der Gemeinschaft, um die Möglichkeit, Bedürfnisse zu stillen: die Sehnsucht nach der alten Heimat, den Hunger nach Begegnung und Austausch zwischen hier und dort, den Hunger nach erneuter voller siebenbürgischer evangelischer Gemeinschaft und nach dem Gott, der uns zu einem Volk gemacht hat. Da haben wir viel, ja alle Hände voll zu tun.
Bistritz mit seiner Heimatortsgemeinschaft, seinem Bürgermeisteramt, seiner Kirchengemeinde ist auch da Vorreiter, was gemeinsame kulturelle Zusammenarbeit betrifft, was Ökumene angeht, was Anerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung mit der Geschichte anbelangt. Und das ist gut so.
Wir brauchen Vorreiter im Gestalten einer neuen ökumenischen Gemeinschaft, einer siebenbürgischen Gemeinschaft über Grenzen hinweg, einer europäischen Gemeinschaft fußend auf christliche, menschenfreundliche und demokratische Werte. Mit den Städtepartnerschaften mit Wels und bald mit Wiehl zeigen die Bistritzer, dass sie die Zeichen der neuen Zeit verstanden haben. Und mit der ökumenischen Erklärung von Bistritz letztes Jahr auch auf ökumenischer Ebene konkret werden lassen.
Auch unsere Landeskirche versucht da mitzuhalten:
Einerseits mit dem Projekt „Glauben und Gedenken“, das vor dem Chorraum dargestellt wird. Es geht dabei zwar um Gedenken, aber auch um das, was in dunkelster Vergangenheit und bis heute, unsere Vorfahren und uns gehalten und uns Kraft und Hoffnung gegeben hat. Und so stehen für unsere wichtigsten Werte je ein Gegenstand dem symbolisch gegenüber – eine Luther-Bibel aus dem 16. Jh. für unseren Glauben, eine Gesangbuch aus dem 19. Jh. für unsere Frömmigkeit, eine Nachbarschaftslade für die Gemeinschaft, ein vergoldeter Kelch für die Kirche, eine Almosenbüchse für die Diakonie, eine Matrikel für die Geschichte, eine alte Fibel für die Bildung und ein gesticktes Kissen für unsere Tradition. Acht Werte, acht Gegenstände, die dies symbolisieren und acht Stationen, wo diese mit einem Gedenkgottesdienst ins Bewusstsein gerufen werden, beginnend mit Hermannstadt am 3. August, Sächsisch-Regen am 24. August, dann Bistritz am 14. September und weiterpilgernd nach Budapest am 21. September, Wels und Rosenau am 27. – 28. September, Rothenburg und Nürnberg im Oktober und abschließend im Januar 2015 in Drabenderhöhe. Wo dann auch der Deportation gedacht wird. Alle diese Stationen, die ihr und unsere Vorfahren vor 70 Jahren auf beschwerliche Weise zurückgelegt habt, stellen für uns eine „Pilgerreise für Frieden und Gerechtigkeit“ dar, wie der Ökumenische Rat der Kirchen alle Kirchen weltweit dazu aufgerufen hat.
Andererseits lädt unsere Kirche zur Erneuerung unserer Gemeinschaft ein und bietet auch eine kirchliche Zweitmitgliedschaft in unserer, in eurer und unserer gemeinsamen Kirche an. Es liegt uns daran, uns mit der einmaligen Geschichte zu versöhnen und untereinander durch Partnerschaften und Gemeinschaft im Glauben, im Gedenken, im- Zukunft-denken gemeinsame Schritte in die Zukunft tun. Schon seit 1993 mit dem Beitritt unserer Kirche wie des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen in die Föderation der Siebenbürger Sachsen hat unsere Trennung auf organisatorischer Ebene ein Ende gefunden. Aber auch in den Köpfen und mit dem Herzen sind wir gerufen, näher zu rücken. Und dafür sind wir alle und unsere Kinder und Kindeskinder gefragt. Denn wie damals die Apostel so braucht der Herr auch heute Mithelfer, Mitarbeiter, damit Friede und Gerechtigkeit, Glauben und Liebe, grenzenlose und einladende Gemeinschaft immer mehr Wirklichkeit wird.
Er, der Herr, hat sich von uns vor 800 Jahren, vor 70 Jahren, vor 25 Jahren nicht abgewandt. Im Gegenteil! Es verging in all den Jahrhunderten der Geschichte seiner, auch unserer Kirche und evangelischen Gemeinschaft kein Tag, in dem Jesus Christus, unser Herr, nicht spürbar, wegweisend, mahnend, helfend, bewahrend, anwesend war. Und in der Gottes Heiliger Geist nicht erfahrbar unter uns am Werke gewesen. Und das ist unsere Rettung und deshalb haben wir Zukunft. Darum rufe ich voller Zuversicht euch zu: Der Herr lebt. Und auch wir dürfen leben, lieben, glauben, gedenken und hoffen in Gottes Gemeinschaft und Gottes Werke verkündigen. Amen.