Abseits ausgetretener Pfade: Ortrun Rhein im Porträt
Auch wenn sie nicht ordiniert wurde, gehört Ortrun Rhein zu den ersten Frauen, die nach einer jahrzehntelangen Unterbrechung am Theologischen Institut von Hermannstadt in Siebenbürgen studieren konnten. In ihrer Wahrnehmung gab es in der Studienzeit nicht häufige Zurücksetzungen für weibliche Studierende. Es ging vielmehr um die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Strukturen und Denkweisen, die vom repressiven kommunistischen System herrührten. Ortrun Rheins Werdegang wurde wesentlich durch die großen Umbrüche der Wendezeit in diesem Land geprägt.
Mitternacht ist vorüber. Ortrun Rhein nimmt ihre zwei Bernhardinerhunde an die Leine und bricht auf. Es geht, wie meistens, am Zibinsufer entlang. Einer der Hunde mag die heutige Begleitung nicht, er knurrt und zerrt an der Leine. Darum muss er zu Hause bleiben. Mit Lotta, der Ruhigen, spazieren wir an den Trauerweiden entlang, die den Fluss säumen, und kommen ungestört ins Gespräch.
Ortrun gehört zur kleinen Gruppe der ersten Theologiestudentinnen in den späten achtziger Jahren, kurz vor der Wende. War der Platz hart erkämpft? Ein Kampf sei es nicht gewesen, es habe sich schließlich doch ergeben. Sanfter Druck und hartnäckiges Fragen habe nach wenigen Jahren Erfolg gehabt. Und dann kommt diese köstliche Geschichte mit dem ersten Kontakt zum theologischen Institut: die Abschlussfeier der deutschen Päda-Absolventen drohte 1986 zum Desaster zu werden. Woher Besteck nehmen für dreißig Teilnehmerinnen der rumänischen Abteilung, die plötzlich mitfeiern sollten? Zwei Beherzte machten sich auf und erbaten Hilfe in unmittelbarer Nachbarschaft, im Hermannstädter „Vatikan“. „Wer garantiert uns, dass alles heil zurückkommt?“ fragten die gestrengen Profs vom theologischen Institut, worauf der Junge tapfer antwortete: „Ich selbst, denn ich will hier demnächst die Aufnahmeprüfung ablegen“, und indem er auf seine Begleiterin zeigte: „diese da übrigens auch!“ So kamen Reini und Ortrun zu ihrem Besteck. Reini konnte gleich studieren, bei Ortrun sollte es noch einige Jahre dauern. Diese Zeit verbrachte sie als Erzieherin im heimischen Rosenau. Im Rückblick sieht sie sich dann die Prüfung ablegen, die Drohung, dass es für immer aus sei mit der Stelle als staatliche Erzieherin in den Wind schlagen und das Risiko einfach in Kauf nehmen. Sie hatte dieses Ziel vor Augen. Warum sollte es nicht erreichbar sein?
Umbrüche nie geahnten Ausmaßes brachte die Wendezeit mit sich. Es dauerte nicht lange und drei Viertel der Studierenden verloren ihre Familien ans ferne, damals noch wenig bekannte Deutschland. Die Auswanderungswelle schwemmte auch fast alle Gemeindeglieder in Stadt und Land fort. „Hier, Fräulein, nehmen Sie den Kirchenschlüssel mit nach Hermannstadt. Wir ziehen alle nach Deutschland.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Kurator einer Gemeinde von der jungen Studentin im Predigteinsatz zu Weihnachten. Und die eigenen Ferien? Wo war jetzt ein Zuhause? Ortrun gerät ins Schwärmen. Man blieb im theologischen Institut, nutzte gemeinsam die Küche der Mensa, jeder brachte was Essbares. Zuletzt kamen auch die Professoren vorbei. Hier war die neue Familie! Der Umbruch wurde zum Aufbruch. Schwierigkeiten waren da, um überwunden zu werden. Wie in jeder Familie knirschte es ab und zu im Gebälk. Das hat Ortrun in einer denkwürdigen Brandrede thematisiert, als Sprecherin der Studierenden, nüchtern, deutlich, ohne Boshaftigkeit. Es ging um Ausfälle im Studienalltag, weil die neue Freiheit dazu führte, dass Professoren Auslandsaufenthalte wichtiger nahmen als den Lehrbetrieb im kleinen theologischen Institut. Dass jemand so frei reden konnte, verschlug manchen die Sprache!
Sie war noch Studentin, als sich Ortrun Rhein für ein zu gründendes SOS-Kinderdorf in Heltau einsetzte. Und kurz darauf zur Leitung gehörte. Mit Kindern arbeitete, mit ihnen Ausflüge unternahm, in eine andere Familie hineinwechselte. Da konnte es vorkommen, dass nachts ein Kind verzweifelt im Ort gesucht werden musste. Die neue Familie stellte sie vor neue Herausforderungen. Ortrun blickte immer wieder in menschliche Abgründe. Die Hingabe aber, mit der sie sich der Aufgabe widmete, bekam sie mit Zins und Zinseszins zurück. Auch Jahre später, als sie Leiterin des Dr. Carl-Wolff-Altenheims war, riss die Verbindung zu den Müttern und zu den Betreuten vom SOS-Kinderdorf nicht ab. Der Osterhase vergaß nie, nachts auch nach Heltau Schokoladeneier in die Fenster der SOS-Familienhäuser abzulegen.
In Heltau absolvierte Ortrun Rhein auch ihr Vikariat, in einer Gemeinde, die von Traditionen mit festen Regeln geprägt war. Dagegen hat sie rebelliert. Als ihr aufgetragen wurde, mit den Frauen die Weihnachtskekse zu backen, während der Pfarrer sich um die Predigt kümmere, war ihre Antwort: „ums Backen kann sich auch mein Freund kümmern, ich beschäftige mich ebenfalls mit der Predigtvorbereitung!“
Eine Ordination als Pfarrerin hat es für sie nie gegeben. Ortrun folgte einem Ruf als Leiterin der größten diakonischen Einrichtung in der evangelischen Landeskirche, des Dr. Carl-Wolff-Altenheims in Hermannstadt. In rosaroten Farben habe man ihr den Job schmackhaft zu machen versucht, erzählt sie heute. Es gäbe wenig zu tun, etwas Büroarbeit und die Koordination eines großen Mitarbeiterstabs. Wozu dann eine Ordination, fragte sich Ortrun und wechselte ins neue Amt. Und fand sich in einer anderen „Familie“ wieder. Und hatte jede Menge zu tun, das hat sich bis auf den heutigen Tag nicht geändert. Die Arbeit schlägt oft in Wellen über ihrem Kopf zusammen. Zur Familie gehören dutzende Mitarbeiter, über hundert betreute Personen sowie Kinder und Erwachsene aus den beiden Hospizen. Wehe, wenn das Herz stark an Einzelnen hängt! Mitarbeiter, besonders die gut geschulten, verliert sie ans Ausland, Betreute an den Tod. Kinder müssen gehen, Erwachsene nach schwerer Krankheit, langjährige Mitglieder der Altenheimfamilie.
Ortrun Rhein hat kein Doktorat in Theologie geschrieben, selten Predigten gehalten, aber ein lebenslanges Praktikum im Dienst der Nächsten absolviert. Ihr Büro ist ein Gästezimmer, ein Wohnraum für die Familie, zu der alle zählen dürfen, die in Not sind. Du und ich und viele andere.
Auch so kann Kirche aussehen.
Ursula Philippi
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Ursula Philippi ist Musikerin. Bis zu ihrem Renteneintritt war sie Organistin der Hermannstädter evangelischen Gemeinde und bekleidete eine Professur für künstlerisches Orgelspiel an der Musikhochschule Gheorghe Dima in Klausenburg/Cluj. Konzertauftritte führten sie in viele Länder Europas. Sie ist auch journalistisch tätig und schreibt regelmäßig für eine Kolumne der Allgemeinen Deutschen Zeitung in Rumänien.