Das hat mich geprägt
Sie wurde in Rumänien ordiniert, hat als Pfarrerin gearbeitet, ist dann in ein anderes Land umgezogen. Helga Kretschmer erzählt, was ihr kostbar geworden ist und was sie auf ihren Lebensweg mitgenommen hat. Sie tut das anlässlich der 30 Jahre Ordination von Frauen in der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien.
Erstens: Wer bin ich geworden? Bin ich immer noch „Frau Pfarrerin Rudolf“ zu der ich 2002 ordiniert wurde? Oder bin ich „Frau Pastorin Kretschmer“? (Anmerkung: Pastor ist die Bezeichnung für evangelische Pfarrer in Norddeutschland.) Ich bin beides. Wenn ich an Rumänien denke, definiere ich mich eher als Pfarrerin Rudolf, beauftragte Pfarrerin, Stadtpredigerin in Schässburg, an der Seite von Stadtpfarrer Hans Bruno Fröhlich von 2002-2007, und in Rauthal.
2005 lernte ich Pastor Mathias Kretschmer kennen und nach unserer Hochzeit 2007 zog ich zu ihm nach Mecklenburg. In Mecklenburg arbeitete ich als Gemeindepädagogin und Krankenhausseelsorgerin. Erst 2016 wurde es möglich als Pastorin an der Seite meines Mannes zu wirken und mich als Pastorin Kretschmer zu definieren.
So kann ich zum jetzigen Zeitpunkt auf fünf Jahre Pfarrerin-Sein, acht Jahre Pastorin-Sein und auf insgesamt 22 Jahre (!) im beruflichen Gemeindedienst schauen.
Zweitens: Mitgenommen klingt für mich so, als ob ich etwas habe mitgehen lassen und etwas weggenommen habe. Je länger, umso mehr merke ich, dass ich für mich – andere mögen es anders sehen - über dies "mitgenommen" nicht hinwegkomme. Die fünf Möbelstücke sind nicht das, worum es hier geht. Dennoch sitze ich gerade an dem Schreibtisch, den sich meine Großeltern mütterlicherseits zu ihrer Hochzeit haben tischlern lassen. Das Sofa, auf dem ich gerne lese, ist dasjenige, auf dem auch mein Otata väterlicherseits gerne saß.
Ich weiß nicht, wie ich das Wort "mitgenommen" verwenden soll; aber ich komme mit dem Wort "geprägt" gut zurecht. Und ich freue mich, die Leserinnen und Leser daran teilhaben zu lassen, was mich in Siebenbürgen (Kronstadt, Hermannstadt und Schässburg) und in der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien geprägt hat.
In Kronstadt wurde ich geboren, getauft (1968) und konfirmiert (1984). Ich war in der evangelischen Jugendgruppe und fuhr gerne zu den Rüstzeiten. Nach der Wende erlebte ich die Kirchenwochenarbeit und wuchs dadurch in die geistliche Gemeindeerneuerung hinein. Zwei Jahre war ich in der charismatischen Gemeinde im „Christlichen Zentrum Kronstadt“. Danach führte mich Gott, durch einen deutlichen Ruf, ähnlich wie den Propheten Jona, wieder in die evangelische Kirche. Ich war aktiv in der Jugendarbeit und der Frauenarbeit. Während des Theologiestudiums in Hermannstadt knüpfte ich den Kontakt zur jüdischen Ortsgemeinde. Und durfte ein Jahr (1998-1999) in Jerusalem studieren (Stipendium von „Studium in Israel“).
Die Verwurzelung in der Kirche ist durch die Gemeinschaft und das Liedgut des Kronstädter und Hermannstädter Bachchors und des Schässburger Kirchenchors vertieft worden. Ja, die Chöre haben mich geprägt … da könnte ich ganz viel schreiben … in mir klingt der Kanon: „Und der Fri-iede Go-ottes …“
Dankbarkeit. Die schöne, fröhliche und sorgenfreie Kindheit verdanke ich meinen Eltern und Geschwistern. Durch meine Taufpaten erfuhr ich auch außerhalb der Familie christliches Leben. Meine Grundschullehrerin verstand es mit einem Wildfang wie mir fertig zu werden, ohne ihm die Lebensfreude zu nehmen. Acht Jahre war ich selbst Lehrerin in Kronstadt. Meine Schüler prägten mich ebenfalls, es wurde eine gute und ausgefüllte Zeit. Meine Mitmenschen hatten Zeit für meine Fragen, für Freizeit und den Ernst des Lebens.
Und nun bin ich in Norddeutschland, der mecklenburgischen Kirche (in der ev.-luth. Kirche in Norddeutschland, ev.-luth. Kirchenkreis Mecklenburg) beheimatet, zuerst an der Seite meines Mannes, am „platten Lande“ mit seinen liebenswerten Menschen und nun, seit Herbst 2023, auch allein als Witwe.
Für den ganzen Weg danke ich Gott und den Mitmenschen von Herzen, denn das ist weiterhin wahr: Gott ist gut und er ist treu, daran hat sich nichts geändert.
Rückblickend kann ich zusammenfassen, dass ich es stets mit Menschen zu tun hatte und habe.
Erst als Lehrerin, um Kindern auf dem Lebensweg ein Vorbild und eine Begleiterin zu sein, ihnen zu helfen das Leben zu bestehen und sich am Leben freuen zu können. Dann - ich denk, es war sogar noch vor der Wende - kamen in Rumänien die politischen Veränderungen, die auch Frauen das Theologiestudium wieder ermöglichten. Ab 1994 gab es die Aussicht auf Ordination. Durch meinen persönlichen Glauben und den Wunsch, die Hoffnung zum Beruf zu machen, die Christus durch seine Auferstehung schenkt, entschloss ich mich für das Theologiestudium und die Begleitung von Menschen – nicht ausschließlich von Kindern – auf ihrem Lebensweg. Und so begann ich 1995 das Theologiestudium mit dem Ziel ordinierte Pfarrerin zu werden. Die seelsorgerliche Begleitung gehört seit meiner Ordination Dezember 2002 zu den Aufgaben, die ich gerne im Dienst der christlichen Kirche tue.
Damals in Schässburg, beim ökumenischen Pfarrerstreffen, hat einzig der Katholik mich als alleinstehende Pfarrerin gefragt, ob mir jemand bei der Hausarbeit zur Hand geht. Ihm war es klar, dass diese Hilfe auch für eine Frau sinnvoll ist und man nicht wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die Pfarrerin, das bisschen Haushalt natürlich selbst macht – diese natürliche Begabung fehlt mir etwas, auch heute noch.
Das geschwisterliche Miteinander in der Ökumene ist mir noch immer wichtig, z.B. in der Allianzgebetswoche und dem Gebet für die Stadt.
Da fällt mir noch ein: die Stola, jeweils die passende, trage ich auch jetzt noch und achte auf die Farben der Paramente … das hat mir wahrscheinlich Mattionkel, Stadtpfarrer Matthias Pelger im Konfirmandenunterricht verdeutlicht – ich sehe noch jetzt das Plakat: das „Kirchenjahr und seine Farben“ vor Augen. Ich erlebte die praktische, akkurate Umsetzung in den Siebenbürgischen Stadtkirchen. Mein Gespür für sakrale Ästhetik hat da ihren Hauptgrund.
Was hat mich noch geprägt? Betende Menschen, glaubende Menschen, die mir etwas zugetraut haben; bestimmt auch die Musik, die Liturgie … Ob sich noch jemand erinnert? „Kindergottesdienst“ war in den 1970ern Gottesdienst mit ganzer Liturgie, ja mit Kyrie und Gloria, nur mit kindgerechter Predigt – Samstag um 15 Uhr. Dann die Lieder in der Jugendstunde, im Chor, und die modernen Lobpreislieder, das Lob Gottes, das Komplet-Singen in der Hochschule, das Rauschen des Meers und der Klang der Mehrsprachigkeit haben mich, meinen Glauben und meine Verkündigung, geprägt und tun es weiterhin.
Als Erstprägung sehe ich Gottes Wirken, wie es in Psalm 139,16 beschrieben wird (schlagen Sie ruhig dort nach). Die Güte und Treue des Herrn, wie sie in Klagelieder 3,22 zusammengefasst sind, bilden Gottes kontinuierliche Prägung. Die Prägungen bleiben.
Und der Segen bleibt. Menschen die den Zuspruch, den Segen Gottes auch mit Handauflegung, brauchen, gibt es wie Sand am Meer – ob am Schwarzen Meer oder an der Ostsee.
Und das ist mein Wunsch, dass ich ein Segen sein darf.
Ihre / eure Helga Kretschmer, Wismar Sommer 2024
Reihe "Was haben Sie mitgenommen, Frau Pfarrerin?" von Elfriede Dörr