Die Bank am Bahnsteig


Christel Ungar (Bild: zVg)

Er hatte sie einfach eingenommen, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Die Farbe war von der Sonne matt geworden, der Lack mancherorts abgesprungen, die mittlere Latte wackelte leicht und klapperte, wenn man sich niedersetzte oder aber aufstand. Er merkte nichts davon. Tag für Tag ging er auf sie zu und ließ sich auf ihr nieder, zerrte ein kleines Notizbuch aus der linken Innentasche seiner rotbraunen Wildledederjacke, entnahm ihm einen Stift und begann Striche zu ziehen. Von Zeit zu Zeit  sprang er auf und ließ sich dann wieder zurückfallen. Aus den Strichen wurden Buchstaben, dann Kreise, Vierecke, Häuser, Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder mit dem nächsten Federzug. So ging das, bis die Sonne in den frühen Nachmittagsstunden seine Bank erreichte. Dann  erhob er sich wie aus einem tiefen Schlaf, ließ das Heftchen mit dem verschlissenen Lederrücken in der Jacke verschwinden, stand auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging stets zum gleichen Bahnhofschalter, dem zweiten rechts neben dem Zeitungskiosk. Da angekommen, fragte er unbeirrt. „Haben Sie noch Karten für den morgigen Schnellzug?” „ Für welchen denn?” tönte es aus dem kleinen Lautsprecher über der Glasscheibe. Dann nickte er zwei Mal, so als hätte er die erwünschte Auskunft erhalten, und ging dem Ausgang zu.

Zu der Uhrzeit, an der er an jenem Mittwoch kam, fuhr noch kein Zug ein, selbst die Bettler lümmelten erwartungslos in irgendeiner Ecke. Der Bahnsteig stand leer bis auf ein paar Tauben, die etwas träge die Gleise nach Fressbarem abkämmten. Die Bank war noch etwas nass vom gestrigen Sturm, der den Herbst gebracht hatte.  Ein Windstoss brachte die mittlere Latte seiner Bank zum Klappern und ließ ihn frösteln. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und setzte sich gemächlich hin, schlug Bein über Bein und holte das Notizbuch ans Licht, öffnete es, nahm den Stift in die Hand und zuckte kurz auf. Die karierten Seiten waren bis auf die letzte vollgekritzelt mit allen möglichen Zeichen. Er begann die Taschen seiner Jacke zu durchwühlen, bis er ein Päckchen Papiertaschentücher ans Licht beförderte. Er nahm eines heraus und begann zu schreiben. Er merkte es gar nicht, als die Durchsage aus dem Lautsprecher über seinem Kopf die Stille zerriss.

Stimati calatori. Trenul Interregio 79 din directia Arad – Timisoara – Craiova- Bucuresti soseste in statie la linia 9. Feriti linia 9.

(Guten Morgen, meine Damen und Herren. Auf Gleis 9 fährt der Interregio 79 von Arad nach Bukarest über Temeswar und Craiova ein. Vorsicht bei der Einfahrt.)

Inzwischen war es auf dem Bahnsteig laut geworden, Menschen drängten sich hin und her mit verschlafenen Gesichtern. Ab und zu streifte eine Tasche oder ein Trolly seinen Fuß. Er ließ es geschehen, reagierte auch nicht, wenn der eine oder andere sich mit „Verzeihung” oder aber „Pardon” entschuldigte. Vielmehr drehte er sich unwirsch nach links oder nach rechts, um ihren Berührungen auszuweichen. Als die Lokomotive  pfiff, blickte er auf und erhob sich plötzlich, so als wollte er im letzten Moment doch noch einsteigen und fiel dann wieder in seine vorherige Position zurück. Nur das Quietschen der mittleren Latte ließ darauf schliessen, dass sich die Bewegung vollzogen hatte.  Der Mann mittleren Alters saß da in seiner etwas zu langen dunklen Lederjacke, der man es ansah, dass sie schon bessere Zeiten gekannt hatte, und notierte irgendetwas auf Papierfetzen.  Dann blickte er wieder auf, als wartete er auf jemanden oder auf etwas, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Vorübergehenden betrachteten ihn wie etwas Fremdes, Störendes. Keiner wagte es, sich neben ihn zu setzen.

Als sie kam, merkte es keiner. Sie war plötzlich da, setzte sich auf die Bank neben ihn, zuckte etwas zusammen, als die mittlere Latte kurz aufklappte, dann saß sie ganz einfach neben ihm, ohne ihn anzusehen, ohne sich zu bewegen. Die Handtasche hatte sie an ihrer rechten Schulter hängen lassen, als wollte sie bereit sein, jeden Augenblick aufzuspringen. Nach einer Weile schlug sie das rechte Bein über das linke, zog ihren Rock zurecht. „Ist der Schnellzug schon abgefahren?” wollte sie wissen, doch ihre Frage blieb in der Stille hängen. Sie ließ nicht locker, berührte kurz seine Schulter und fragte nochmals. „Entschuldigen Sie die Störung, ist der Schnellzug schon abgefahren?” Verärgert über die  Unterbrechung aber dann doch etwas verwirrt, erwiderte er höflich. „Der kommt erst in ein paar Stunden. Gehen Sie in den Wartesaal zu den anderen. Bei diesem Wetter können Sie nicht da auf der Bank warten.” Schon wollte er sich wieder seinen Papieren zuwenden, doch sie gab nicht auf. „Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich ihn verpasst hätte.” Da er schwieg, fuhr sie fort: „Das hätte eine plausible Entschuldigung ergeben. Der hätte er wohl schwer etwas entgegenhalten können, vielleicht bloß den Vorwurf, Du musst aber auch immer und überall verspäten. Verpasst...jetzt muss ich wohl doch zu ihm fahren.” Sie machte eine kleine Pause, da sie jemand beim Vorübergehen mit dem Koffer rammte. Sie strich mit der Hand kurz über die Stelle am Knie. „Spätestens Freitag Abend sollst du da sein, hatte er gesagt, ich kann dich nicht abholen kommen, aber ich hinterlasse den Schlüssel beim Pförtner für dich. Du findest dich schon zurecht. Ich komm dann etwas später. Vielleicht machst du inzwischen schon was zum Essen. Und schon hatte er aufgelegt, noch bevor ich ihm sagen konnte, wie einsam ich mich fühle am Bahnhof, wenn mich niemand erwartet, wie unangenehm es mir ist, den Pförtner grüssen zu müssen, der mir jedes Mal den Schlüssel mit einer kleinen Pause und einem mitwissenden Zwinkern aushändigt.”

Irgendetwas war an ihr, was ihn faszinierte. War es die Sicherheit, mit der sie auf ihn einredete, ohne sich darum zu kümmern, ob sie ihn störte,  ob er auf das Gesagte reagierte, war es die Leere in ihrem Blick, waren es ihre Hände, die in ständiger Bewegung waren, im Kontrast zu ihrem gesamten Körper, der auf der Bank zu hängen schien, oder waren es ihre abgetretenen flachen Schuhe, wobei er doch sonst immer Damen mit Stöckelschuhen bevorzugte. Er wusste nicht wieso, aber plötzlich tat sie ihm leid. „Vielleicht sollten Sie nicht zu ihm fahren,” hörte er sich sagen. Sie schien es nicht zu bemerken. „Wenn er dann kurz vor Mitternacht kommt, ruft er an, damit ich ihm das Tor aufsperre, ohne sich darum zu kümmern, dass ich Angst habe, durch den dunklen Gang zu gehen - papperlapapp, nur kleine Kinder fürchten sich im Dunkeln - brummt dann etwas beim Hereinkommen und eilt mir voraus, hängt seinen Mantel an den Nagel und fragt jedes Mal das Gleiche. - Willst Du irgendwohin essen gehen? - Wenn meine Antwort dann etwas verspätet, sagt er nur - siehst Du, ich will ja immer, dass du entscheidest, was wir machen sollen, aber du bist ja nie im Stande etwas zu entscheiden.”

Urplötzlich, als hätte sie einen Schlag erhalten, hört sie auf zu reden. Die Tasche ist ihr durch die Aufregung der letzten Minuten auf die Bank gerutscht. Sie tastet sie nach ihr ab und als sie sie wieder zu fassen bekommt, reisst sie sie an sich, gibt sich einen Ruck und fragt: „Wie spät ist es?” „10 nach 10”,  sagt er, nach einem kurzen Blick auf die Uhr an seiner Hand. „Dann muss er ja gleich da sein.” „ Wer?” „ Der Schnellzug nach A.” Und weg war sie, noch lange bevor der Zug dann einfuhr.

Ja, dieses Mal bemerkte er das Kommen des Zuges, er stand sogar von seiner Bank auf, machte ein paar Schritte nach links, dann wieder nach rechts, blickte in alle Richtungen und kehrte zu seiner Bank zurück erst als der Zug schon lange abgefahren war. Er ließ sich auf sie fallen, die mittlere  Latte krachte laut auf. Unwirsch sprang er wieder auf, ein Zittern ging durch seinen Körper. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, schon wieder braut sich ein Sturm zusammen, und blieb unschlüssig stehen. Er stand einfach da und rührte sich nicht einmal, als eine lärmende Familie seine Bank in Angriff nahm.

Stimati calatori. Trenul Regio 9108 din directia Targoviste soseste in statie la linia 3...

So als hätten ihn die Wortfetzen aus dem Lautsprecher aufgescheucht, gab er sich einen Ruck, nahm sein Notizbuch aus seiner Jackentasche, dann die beschriebenen Papiertaschentücher und ohne sie noch einmal anzusehn, warf er sie zusammen mit dem Stift in den nächsten Papierkorb und ging auf das Bahnhofsgebäude zu, am Schalter neben dem Zeitungskiosk achtlos vorbei und trat aus der Halle.

Christel Ungar wurde 1966 in Hermannstadt/Rumänien geboren. Sie studierte Germanistik und Romanistik an der „A. I. Cuza“-Universität in Jassy und arbeitete nach ihrem Abschluss als Deutschlehrerin in Sathmar. Sie wechselte im Juli 1990 zum Rumänischen Fernsehen in Bukarest, wo sie seit 2003 Chefredakteurin der deutschen Redaktion im TVR ist, z. Z. Auch Mitglied im Verwaltungsrat von TVR. Sie veröffentlichte vier Gedichtbände: „So blau / Atât de albastru“ (Global Media, 2001), „Wenn wir jetzt / Dacă acum“ (Honterus, 2011), „Rot / roșu“ (Honterus, 2016) und ,,Du bist mein Kreuz / Tu ești crucea mea“ (Honterus, 2021).

 
Am Hang
 
Hand in Hand
gleiteten wir in Lichtschimmer
am Bahnsteig
als die Gleise noch abgefangen wurden.
 
Schulter an Schulter
buendelten wir Zungenblueten
am Rosenhang
als die Grenzen noch stachelgetraenkt waren.
 
Stirn an Stirn
klammerten wir uns an Wortbrocken
am Ofenstein
als die Waende noch durchlaessig waren.
 
Aug in Aug
versanken wir in Versprechungen
am Bergruecken
als das Kloster noch Schatten warf.
 
Als das Feuerwerk dann losging
blieben Bahnsteig und Rosenhang,
Ofenstein und Bergruecken
fuer immer versperrt.

Ruf

Ich halte
an dem Gedanken
fest

dass
derselbe Glockenschag
auch dich hat aufschrecken lassen.


Beschattet

Die Wand des Klosters entlang
streift er zoegernd um die Ecke
dein Schatten
Stein um Stein
als wollte er umfassen
die Ahnung meines Schattens
der sich so sehr bemueht hatte
im Vorbeigleiten Spuren zu hinterlassen.

Reihe: Autorinnen und Autoren schreiben im "Jahr des 30 jährigen Ordinationsjubiläums von Frauen"