Gedanken zur Situation


Alexia Tobă ist Leiterin des Ernst-Weisenfeld-Schülerheimes in Hermannstadt und Gemeindekuratorin in Agnetheln

Neben den vielen – großen und kleinen – Kirchengemeinden gibt es im Rahmen der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien (EKR) eine andersartige Gemeinschaft, die für viele nicht sichtbar ist. Es ist die junge, dynamische und ökumenische Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler im “Ernst Weisenfeld” Schülerheim in Hermannstadt.

Im normalen Betrieb hilft die EKR rund siebzig jungen Menschen einen guten Bildungsweg einzuschlagen. Direkt verantwortlich dafür ist Frau Alexia Tobă, als Leiterin. In dieser Corona-Zeit versucht sie nicht nur online Hilfe für das Lernen auf das ungewisse Bakkalaureat hin zu geben, sondern ist auch geistlich für die jetzt verstreuten Schutzbefohlenen da. Von ihr im folgenden einige Gedanken:  

Liebe Schwestern und Brüder!

"Danket, danket dem Herrn, denn er ist sehr freundlich, seine Güt' und Wahrheit währen ewiglich." So beginnt der Psalm Nummer 107 aus dessen Zeilen wir die Losung für den heutigen Tag entnehmen. Und wer von uns kennt diesen Kanon nicht und wie oft haben wir ihn in unseren Gemeinden gesungen? Ich erinnere mich an die "Stillen Tage", die unser Bischof für die Studierenden der Theologie nach Abschluss des Wintersemesters im Begegnungszentrum Elimheim (Michelsberg) organisierte. Da war es fast ein ungeschriebenes Gesetz, das obig genannte Lied vor dem Mittagessen zu singen. Und nach dem Lied kam immer ein leckeres Essen für die Gemeinschaft.

Psalm 107 ist ein Dankpsalm. Er war ein fester Bestandteil innerhalb der Liturgie eines Dankfestes in Israel. Die Verse 3 und 8 lauten: "... die er aus den Ländern zusammengebracht hat von Osten und Westen, von Norden und Süden. Die sollen dem Herrn danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut."

Verschiedene Gruppen werden damit aufgerufen, Gott für seine Güte und seine an den Menschen vollbrachte Wunder zu danken. Gemeint waren die Pilger, die von weit her zum Heiligtum reisten, um das Dankesfest mit zu feiern. Wahrscheinlich waren aber auch die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil gemeint, die nach vielen Jahren endlich ihren Weg nach Hause gefunden hatten.

Nun, wenn ich die Losungsworte heute lese, kommt mir ein Wort in den Sinn. Die Verse beschreiben eine Utopie. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet "Nirgendwo" oder, wie es im Duden steht, ein undurchführbar erscheinender Plan. Und es stimmt: "Nirgendwo" können die Menschen aufeinander zugehen, "Nirgendwo" ist die weltliche Obrigkeit ausschließlich auf das Wohlbefinden des Landes und seiner Bürger bestrebt, "Nirgendwo" gibt es ein Impfstoff für die Pandemie, die die Menschheit seit Monaten plagt, "Nirgendwo" regnet es mal richtig, "Nirgendwo" geht es nicht nur ums blanke Überleben. Kurzum: "Nirgendwo" gibt es einen Grund zu feiern. Unsere Wirklichkeit nimmt immer mehr dystopische Merkmale an. Und sogar die Dystopien sind nicht mehr das, was sie einmal waren.

Beginnend mit den apokalyptischen Schriften des frühen Christentums über George Orwells "Farm der Tiere" oder Fritz Langs "Metropolis" bis zu Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" sollte die Gesellschaft zum Nachdenken angereizt werden. Dystopien (altgr.: "schlimmer Ort") beschreiben ein pessimistisches Bild einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt und häufig wollten die Autoren mithilfe eines negativen Zukunftsbildes auf bedrohliche gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam machen und vor deren Folgen warnen.

Aber in den letzten Jahren ist das nicht mehr der Fall gewesen. Dystopische Erzählungen sind, wie vieles andere auch, zum Konsumprodukt geworden. Filme oder Serien wie "Resident Evil", "Die Tribute von Panem" oder "Die umherstreunenden Untoten" (engl.: "The Walking Dead") erwiesen sich als echte Kassenschlager. Die "Konsumenten" konnten einfach nicht genug davon bekommen und die Frage, die sich hier ergibt, ist: Warum?

Die Antwort ist einfach: Weil man davon Abstand hatte in dem Bewusstsein, dass uns solch ein Unglück nie einholen könnte. Wir starrten ungestört aus der sicheren Entfernung eines Bildschirms in den Abgrund und genossen den Nervenkitzel aus dem Komfort unseres Heims.

Nur ist uns unser Heim heuer zum Gefängnis geworden. Der Abgrund hat zurückgeschaut und jetzt überlegen wir zweimal, ob wir den Fuß vor unserer eigenen Haustür setzen. Zugegeben, die Corona-Krise und ihre Folgen hängen wie das Damoklesschwert über allen unseren Häuptern. Man sucht händeringend nach Lösungen und Auswegen aus der verzweifelten Lage, in der man sich befindet und so bin ich auf ein drittes Wort gestoßen. Das Wort ist „Realutopie“ und bedeutet eine Utopie, die sich verwirklichen lässt. Die Weltgeschichte vermerkt zahlreiche Beispiele solcher Realutopien. Denken wir mal darüber nach: wer hätte vor Anfang des Zweiten Weltkrieges damit gerechnet, dass nicht einmal zehn Jahre später die Staatsgründung Israels erfolgen wird? Und dass die Sammlung des israelitischen Volkes bis in die heutige Zeit anhält? Oder: Wer hätte 1987 gedacht, als der Arbeiteraufstand in der Tractorul- Fabrik in Kronstadt brutal unterdrückt wurde, dass nur zwei Jahre später die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang fallen werden? Die Zusammenführung zwischen den Menschen im Osten und Westen war bis dahin nur ein kühner Traum gewesen.

Liebe Schwestern und Brüder,

solche Ereignisse sind wirklich gewordene Realutopien und sind in der Tat Zeichen von Gottes wunderbarem Handeln an uns Menschenkindern der heutigen Zeit. Deshalb spricht nichts dagegen, dass Gott weitere Wunder an uns vollbringen wird. Unser Herr Jesus hat seinen Jüngern angekündigt, dass sich bei seiner Wiederkunft Menschen aus allen Teilen der Erde sammeln werden, um bei ihm zu sein. Damit haben wir als Christen eine wunderbare Aussicht für die Zukunft und können unserem Herrn schon im voraus dafür danken. Und bis es soweit ist, sammelt unser Herr durch Kirche und Mission andauernd und weltweit neue Menschen, die sich der Gemeinschaft des Heiligen Geistes anschließen. Uns bleibt nichts übrig außer zu glauben, zu lieben und zu hoffen, wie der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief schreibt, dass Gott irgendwo, irgendwie, irgendwann uns endlich auf immer und ewig zusammenführt.

Lied: "Irgendwo auf der Welt" (Comedian Harmonists)

Alexia Tobă