Jetzt ist die Zeit! (Mk 1, 15) - Um Veränderungen zu gestalten


Lilly Blaudszun, Andreas Brohm, Kristin Jahn, Thomas de Maizière, Gabriele Bartsch, Elfriede Dörr (von links oben; Bilder: zVg)

Was ist nötig, um Veränderungen zu gestalten? - Beim Deutschen Evangelischen Kirchentag ist diese Frage in einer Sondersitzung der Präsidialversammlung vom 10.-12.März 2023 in Fulda behandelt worden. Richtungsentscheide wurden getroffen, um auf die massiven Umbrüche in der Gesellschaft und in der eigenen Organisation zu reagieren.

Wie nehmen Leitungspersonen in den Gremien des Deutschen Evangelischen Kirchentages (EKT) diese Verantwortung wahr? Darauf antworten Lilly Blaudszun – Sinnfluencerin und Präsidiumsmitglied, Andreas Brohm, Bürgermeiseter und Präsidiumsmitglied, Dr. Kristin Jahn – Generalsekretärin des EKT, Dr. Thomas de Maizière -  Minister a. D. und Präsident des EKT, Gabriele Bartsch – Unternehmerin und Vorsitzende des Aufsichtsrates des EKT.

Lilly Blaudszun, du bist Sinnfluencerin. Wie verstehst du deine Leitungsaufgabe als Mitglied des Präsidiums des Evangelischen Kirchentages?

Leitung ist für mich vor allem Verantwortung, hier konkret im Präsidium ist es die Verantwortung als eine der jüngsten Personen, die jemals ins Präsidium gewählt wurde. Das schließt auch Verantwortung  für  die Jugendlichen ein, die in Richtung Kirchentag und Leitungsgremien kommen wollen. Leitung ist auch ein bißchen den Takt anzugeben, das ist mir ganz wichtig, mich nicht beeinflussen zu lassen von Menschen die vielleicht sehr lange schon im Präsidium sind und augenscheinlich sehr viel Macht haben. Sondern meinen eigenen Weg zu gehen und wie gesagt die Marschrichtung auch ein bißchen mitanzugeben, für die jungen Menschen.
Leitung als Sinnfluencerin: Ich bin in den sozialen Netzwerken aktiv und  teile da insbesondere meine Meinung zu aktuellen und generellen politischen und  gesellschaftlichen Ereignissen und Themen. Auch da ist es wieder eine große Frage von Verantwortung. Andere Menschen würden das als Macht bezeichnen, ich begreife das eher als Verantwortung und natürlich auch als Privileg, dass meine Stimme so gehört wird.
Ich war schon immer politisch, habe mich in der SPD Jugendorganisation eingebracht. Zuerst waren da meine Haltung, meine Werte, das politische Denken, dann das Stimmeergreifen in sozialen Medien. Es hat sich über Jahre so entwickelt, es war nie eine bewusste Entscheidung Sinnfluencerin zu werden. Es war eher ein Prozess. Dieses sinnfluencen geht ja über die Social Media Kanäle hinaus. Als ich zu „richtigen“ Interviews eingeladen wurde – ich glaub da war so der Moment, wo ich wirklich realisiert habe, dass ich als Stimme, die gesellschaftlich irgendeine Relevanz hat, begriffen wurde. Das ist Privileg, aber auch Verantwortung.
Mir folgen insgesamt ich glaube 100.000 Menschen in den sozialen Medien. Ich habe die Möglichkeit, Themen zu setzen, die mir wichtig sind und die vorher noch nie so besprochen wurden.  Z.B. Umweltkriminalität – das ist ein Thema, das wird gesellschaftlich überhaupt nicht beachtet, ist aber eines der größten Treiber des Klimawandels.

Andreas Brohm, Sie sind Bürgermeister. Wie verstehen Sie Ihre Leitungsaufgaben im Präsidium?

Der  Bürgermeister gibt im Grunde genommen eher Leitlinien vor, und dann muss man auch wissen, am Ende entscheidet ein Gremium darüber. Ich sehe meine Funktion nicht darin, das Gremium zu überzeugen, sondern kann Dinge vorgeben, die ich wichtig finde, die möglicherweise auch schmerzlich sind. „Einsicht“ ist das Thema der Zeit. Demokratie bedeutet, es entscheidet die Mehrheit ohne  zu prüfen, ist das überhaupt realistisch, ist das machbar. Die Realitäten blendet man aus, da Demokratie ist „Wünsch dir was“, so ist das im Osten, so eine typische Osterfahrung, die hat Anfang der neunziger auch superfunktioniert. Das geht heute nicht mehr.
Leitung als Bürgermeister bedeutet auch, dass ich für 200 Leute der Chef bin. Und das ist  nochmal eine andere Situation, weil Leitung bedeutet hier „ich weiß nicht alles“, das gebe ich auch zu. Insofern geht es um einen partizipativer Führungsstil, ich setze die Leitplanken und sage: ok, ich ermächtige euch selbst Entscheidungen zu treffen und ich trage die Verantwortung dafür. Leute in die Verantowrtung zu nehmen, das ist Leitung. Und die Folge davon ist: die Leute wagen mehr. In der Verwaltung gibt es große  Umstrukturieungsprozesse – Digitalisierung – da brauche ich Menschen, die was wagen und die eine Idee haben. Das kann nicht an meinem Nichtwissen scheitern, sondern höchstens an meinem Nichtmut. Das ist die Definition der Leitung da. Hier in der Präsidialversammlung habe ich keine besondere Leitungskompetenz, sondern trage im Gremium die inhaltliche Verantwortung mit. Wir kommen in dieser Sondersitzung zusammen, weil man in der letzten PRV das Gefühl hatte, wir haben irgendetwas nicht gut kommuniziert. Ich finde  das krass, dass man über 100 Leute zusammenholt, sich 3 Tage Zeit nimmt, um Dinge anzusprechen und mit allem Respekt die anstehenden Veränderungen miteinander zu bereden, wo wir schon wissen, das wird schmerzhafte Einschnitte geben. Wir versuchen es möglichst so zu machen,   dass keine Verletzungen zurück bleiben. Im kommunalen Kontext würden wir diese Diskussion in zwei Stunden schaffen, sie wäre sehr blutig, sehr schmutzig, würde auch unter die Gürtellinie gehen, wir würden aber am Ende eine Entscheidung treffen müssen, weil wir nicht so viel Zeit haben. Sich 3 Tage Zeit zu nehmen finde ich Luxus. Wir haben uns wertschätzend vergewissert was zu tun sein wird. Das ist ein sehr unbefriedigendes Ergebnis, ganz ehrlich.

Kristin Jahn, wie verstehst Du Leitung als Generalsekretärin des EKT?

Für mich ist als geistliche Leitung immer wichtig, dass ich mich unter einem Himmel weiß, mit ganz vielen Menschen und dass Gott uns in ein Amt und in auch in den Dienst ruft, ob das im Haupt- oder Ehrenamt ist. Insofern bilden wir eine Dienstgemeinschaft. Engagement  ist das Stichwort des Kirchentages, jeder kann sein Herzblut einbringen. Für mich ist es wichtig, dass wir immer auch mal fragen, wozu gibt es uns? Wozu hat uns Gott in die Welt hinein geliebt? Was würde Jesus an unserer Form von Weggemeinschaft Kirche / Kirchentag liegen? Wo würde er ein großes Ausrufezeichen dahinter machen? Ja, die Frage stelle ich mir ganz oft, weil das für mich immer die Rückkopplung an die Heilige Schrift ist. Ohne die würde es – nenne es „Abenteuer Kirchentag“ - nie geben. Auf der anderen Seite der Leitung, also im Management, sage ich das mal so: es ist unbarmherzig den Menschen nicht die Fakten auf den Tisch zu legen. Und deshalb haben wir im Zukunftsprozess unseren Ehrenamtlichen die harte Wahrheit zugetraut, dass wir uns leider dahingehend entwickeln, dass uns die Menschen fehlen, die einfach so kommen. Was mit soviel Herzblut von so vielen Ehrenamtlichen vorbereitet wurde findet zu wenig Zuhörer. Es sind zu wenig Menschen, die sagen: „Toll, was ihr da macht! Es hat mich bewegt und begeistert.“  Und das muss uns als Frage was angehen, wenn wir uns die Zahlen anschauen. Es bringt nichts diese Zahlen nicht zu thematisieren.

Thomas de Maizière, was ist Ihr Leitungsverständnis als Präsident des Kirchentages?

„Präsident des Kirchentages“, das klingt nach einem mächtigen Titel. Ein Minister, der ich vorher war, hat mehr formale Macht. „Minister“ klingt nach einem bescheidenen Titel, denn Minister heißt auf Lateinisch „der Diener“. Im Ministerium war es viel hierarchischer, formaler, öffentlicher. Verglichen mit der Aufgabe als Minister ist das hier alles anders. Der Präsident des Kirchentages hat keine formale Macht. Seine Leitung heißt Koordinieren, Zusammenführen, für Ergebnisse Sorgen, Ermutigen, dass viele mitmachen, und trotzdem ein Ergebnis im Blick Haben. Im Moment arbeiten wir an der Kirchentagsordnung. Mir ist es wichtig, dass die Ordnungen den Menschen dienen, und nicht die Menschen den Ordnungen. Darum nehmen wir diese Aufgabe heiter auf, und tasten auch Themen an, die im Kirchentag bisher nicht zur Disposition standen, die heiligen Kühe. Solche Prozesse dauern länger als ausserhalb der Kirche, aber sie sind wichtig und notwendig, und deshalb mache ich das auch gerne. Es ist menschlicher. Und hier wird gemeinsam gesungen.

Gabriele Bartsch, was ist dir als Vorsitzende des Aufsichtsrates des EKT wichtig?

Im Laufe meiner Führungserfahrung als Geschäftsführerin einer Agentur für Soziales Lernen sind mir vier spirituelle Dimensionen deutlich geworden: Zuversicht und Hoffnung, Achtsamkeit und Wertschätzung, Talente- und Gabenorientierung, Vertrauen und Zutrauen. Bei schwierigen Themen stützt uns die Hoffnung, dass es ein Mehr an eigenem Vermögen gibt, dass wir auf den Heiligen Geist vertrauen können. Wenn es um Kritik geht, ist es wichtig, den Personen trotz allem achtsam und wertschätzend zu begegnen. Häufig neigen wir dazu, bei Menschen zuerst die Defizite zu sehen. Gabenorientierung, also den Fokus auf Potentiale, Charismen und Stärken zu richten, ist viel wirkungsvoller. Ich habe an mir selbst erfahren, dass ich über mich hinaus wachsen kann, wenn mir jemand etwas zutraut. Als Führungskraft kannst di deinen Mitarbeitenden immer mehr zutrauen als diese sich selbst. Und Vertrauen ist überhaupt die wirkungsmächtigste Ressource, die mir als Führungskraft zur Verfügung steht. Dies alles hilft mir auch  in meiner Aufgabe als Aufsichtsratsvorsitzende des Deutschen Evangelischen Aufsichtsrates, wo es darum geht, darauf zu achten, dass der Kirchentag finanzierbar und organisierbar ist.

Die Fragen stellte Dr. Elfriede Dörr, Pfarrerin der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, Vorsitzende des Ständigen Internationalen Ausschusses des EKT, Mitglied in der Präsidialversammlung des EK.

Der Evangelische Kirchentag (EKT) findet vom 7. bis zum 11. Juni 2023 in Nürnberg statt. Die Evangelische Kirche A. B. in Rumänien beteiligt sich inhaltlich bei der Internationalen Willkommensfeier für internationale Gäste des Kirchentages, bei der Ausstellung "Evangelische Migrationsgeschichten" und bei der Vorstellung der Kirche auf dem Markt der Möglichkeiten. Jugendliche bringen sich als Helfer ein.