"Kein anderer Weg als mit dem Wort und auf der Straße dagegen zu protestieren!"


Protestierende Menschen auf dem Krostädter Marktplatz: Gefordert wird Respekt für rechtsstaatliche Mindeststandards.

Rumänien steht derzeit unter dem Eindruck der größten Proteste seit 27 Jahren. Die Kritik der Demonstranten richtet sich gegen die aktuelle Politik der neuen Regierungskoalition aus PSD (‚Partidul Social Democrat‘) und ALDE (‚Alianța Liberalilor și Democraților‘), die unter dem Verdacht steht, schwerwiegende Rückschritte bezüglich der in den vergangenen Jahren getroffenen Antikorruptionsmaßnahmen einzuleiten. – Reinhart Guib, Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien (EKR), nimmt dazu Stellung.

In der Nacht von 31. Januar auf 1. Februar ereigneten sich zwei bemerkenswerte Vorgänge in Rumäniens Politik: Einerseits hat die Regierung eine Eilverordnung verabschiedet, durch die Änderungen am Strafgesetzbuch und an der Strafprozessordnung wirksam wurden. Diese Verordnung steht unter anderem deswegen im Kreuzfeuer der Kritik, weil das Erlassen einer Eilverordnung durch keinerlei Notstand gerechtfertigt war. Außerdem hat die Regierung eine Gesetzesvorlage über Begnadigungen verabschiedet, die vom Parlament zu beschließen sein wird. Hier liegt derzeit zwar noch kein gültiger Rechtsakt vor, doch die Entrüstung weiter Teile der Bevölkerung bezieht sich auch auf die bevorstehenden Begnadigungen, von denen in großem Ausmaß prominente, teils wegen Korruption und Amtsmissbrauch verurteilte Politiker profitieren würden.

Hunderttausende Menschen protestieren

Aus Gründen der Aktualität haben Vertreterinnen und Vertreter der Kirchenleitung der EKR sich bereits anlässlich des Reformationsfeierlichkeiten in Hermannstadt Ende Januar und bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Repräsentanten der anderen historischen protestantischen Kirchen am 1. Februar in Kronstadt geäußert. Gemeindeglieder, Mitarbeiter und Pfarrer der EKR nehmen seit Tagen regelmäßig an den Kundgebungen teil, die mittlerweile an die 300.000 Menschen rumänienweit mobilisiert haben. In einzelnen Gemeinden wird dezidiert dazu aufgerufen, an den Protesten teilzunehmen.

Protestiert wird nicht nur in Bukarest, wo vor dem Regierungssitz phasenweise mehr als 150.000 Menschen demonstrieren und in den Städten Siebenbürgens (Klausenburg 30.000, Hermannstadt 20.000, Kronstadt 10.000) und des Banat (Temeswar 25.000). Selbst in kleineren Städten (Arad, Baia Mare, Schässburg, Mediasch, Fogarasch, Sächsisch Regen, Sankt Martin, Agnetheln, Suczawa, Bistritz etc.) und auch in den südlichen und östlichen Landesteilen, in denen sich vor allem die PSD gewöhnlich besonders starker Unterstützung erfreut, wird seit Tagen verstärkt auf die Straße gegangen (Jassy 15.000, Konstanza 13.000, Craiova 10.000, Ploiești 8.000 bzw. hunderte Menschen in Târgoviște, Slatina, Caracal, Pitești, Târgu-Jiu etc.)1. Kundgebungen finden des weiteren auch vor den rumänischen Auslandsvertretungen mehrerer internationaler Hauptstädte statt (Berlin, Chișinău, Kopenhagen, London, München, Paris, Stockholm, Wien usw.)

Auch Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Kommission und des EU-Parlaments, sowie die Botschaften mehrerer Staaten haben sich klar kritisch über die jüngsten Entscheidungen und über die angekündigten Vorhaben der PSD-ALDE-Regierung geäußert. Sogar in den eigenen Reihen melden sich kritische Stimmen (etwa der zurückgetretene Handelsminister Jianu, der PSD-Bürgermeister von Jassy und der zurückgetretene ALDE-Vorsitzende von Hermannstadt).

„’Semper reformanda‘ gilt auch für die Gesellschaft“

In einem Interview mit der deutschen evangelischen Nachrichtenagentur ‚Idea‘ hat Bischof Reinhart Guib nun erneut konkret zu den Ereignissen Stellung bezogen. Der Bischof sieht den Machtkampf nicht vorrangig als einen zwischen der Regierung und dem Staatspräsidenten, sondern „zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft, also den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn es auf der Regierungsseite tatsächlich um einen Machtkampf geht, auf dem Hintergrund der Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit, bemängeln der Präsident und die Zivilgesellschaft mit Recht, dass seitens der PSD-ALDE-Koalition im Parlament und in der Regierung kein Reformwille und kein Verantwortungsbewusstsein herrschen. So wie die Kirche gut tut, dem ‘semper reformanda‘ auf Gottes Wort hin nachzugehen, besonders auch im Reformationsjubiläumsjahr, hat auch die Gesellschaft im heutigen Rumänien sich zu reformieren und die humanen und christlichen Werte wie die Einheit zwischen Wort und Tat, Freiheit und Toleranz, Gerechtigkeit und Verantwortung, Glauben und Nächstenliebe, Gemeinschaftssinn und Bürgermündigkeit, Bildung und soziales Engagement, neu zu entdecken. Seit der Wahl von Klaus Johannis zum Präsidenten geschieht ein Umdenken, das mit den jetzigen friedlichen Protestaktionen auf eine mündigere Ebene tritt.“

Korruption, so Bischof Guib, stellt in Rumänien ein hartnäckiges Problem dar: „Dies fängt auf höchster Ebene an! Wenn eine Regierung solche Verordnungen beschließt, um die eigene Klientel zu bedienen bzw. freizusprechen gibt es keinen anderen Weg als mit dem Wort und auf der Straße dagegen zu protestieren! Das Problem gibt es seit Adam und Eva, seit es Menschen gibt und in Rumänien verstärkt durch das in kommunistischer Zeit ausgeprägte Fördern des Lernens, dass man nicht selber schuld ist, sondern immer der Vorgesetzte bzw. die anderen. Ein Schuld- bzw. Sündenbewusstsein gibt es bei den alten kommunistischen Kadern nicht und leider hat sich das auch in einigen ihrer Nachkommen weiterverpflanzt. Ich und viele andere auch sind guter Zuversicht, dass in der jetzigen jungen Generation, die durch die USR (‚Uniunea Salvați România‘) auch im Parlament und insbesondere auf der Straße vertreten ist, das Umdenken voranschreitet und wir spätestens in vier Jahren ein verantwortungsvolleres und volksnäheres Parlament und Regierung haben werden als heute.“     

Unterdessen laufen die Großkundgebungen weiter. Viele Demonstrierende wünschen sich für Sonntagabend eine Million Menschen (!) auf Rumäniens Straßen und Plätzen. Obwohl dieses Ziel sehr ambitioniert erscheint, könnte die Teilnehmerzahl tatsächlich weiter steigen. Auch die Wetterprognosen lassen die Protestbewegung hoffen: Für die kommenden Tage wurden erneut Temperaturen über dem Gefrierpunkt prophezeit.

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1 Sämtliche Angaben zu Teilnehmerzahlen sind Schätzungen laut dem Nachrichtenportal Hotnews und beziehen sich auf den Abend des 3. Februar 2017.