Nimm nach Odessa auch die Wollsocken mit!
So verabschiedete mich meine Familie, als die Reise in die Ukraine beginnen sollte. „Nimm auch die Wollsocken mit, denn man weiß nicht, ob es da überhaupt noch Heizung gibt.“ Ja, was funktioniert denn in der Ukraine überhaupt?
Sollten wir Lebensmittel mitnehmen, oder gar einen Stromgenerator? Werden wir Internet haben? Wird man mit der Bankkarte zahlen können, oder sollte man genügend Bargeld dabeihaben? Eine große Unsicherheit im Blick auf die Situation, die man vor Ort vorfinden würde, begleitete die Vorbereitungen. Manchmal sogar mehr als das. Freunde polterten: „Das ist unvernünftig! Wieso fährst du hin? Du hast Kinder großzuziehen!“ Für alle - auch für uns, die wir uns nach Odessa aufgemacht haben, war das Alltagsleben der Menschen dort ein weißer Fleck. Man hört täglich punktuelle Nachrichten und füllt das Unbekannte je nach eigener Phantasie oder Phobie aus.
Wir: Das war eine Gruppe von vier Leuten, die aus unterschiedlichen Institutionen kamen. Christiane Lorenz vertrat die Ukrainehilfe der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR), Pfarrer Zorán Kézdi stand für die internationale Studiengruppe des Zentrums Evangelische Theologie Ost (ZETO), Stefan Cosoroabă kam von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und Pfarrer Uwe Seidner war als regionaler Experte mit dabei. Die Reise vom 19. – 22. März 2023 sollte eine Informationsreise werden und auch ein Zeichen der Solidarität mit der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU), deren Verwaltungszentrale in Odessa ist. Auf die Frage, ob wir denn keine Angst hätten, kann – im Vor- und Nachhinein - getrost geantwortet werden: „Nein, denn es müssen vierzig Millionen Menschen dort ihr Leben gestalten. Wenn wir nun vier Tage dort sind, dann tun wird nichts anders, als was diese täglich tun.“
Keine spektakulären Dinge gab es zu erledigen und keine hohen Ziele zu erreichen. Es galt, für kurze Zeit in den Schuhen des Nächsten zu wandern. Aber selbstverständlich fanden wir Kriegszeichen, die nachdenklich stimmten und zum Teil ein mulmiges Gefühl hinterließen! Es begann schon an der Grenze mit einem Verhör durch den Geheimdienst, was wir denn in der Ukraine vorhätten? Dann kam das Passieren der militärischen Kontrollpunkte an den Straßen. Die Begegnung mit Binnenflüchtlinge aus dem Oblast Cherson oder aber die Beerdigung eines Kriegstoten in Tarutyne (Tarutino) - in die wir ungeplant hineingerieten - ließen den Krieg ganz real werden. Einen irrealen Charakter erhielt er aber, als die Sirenen Odessas Fliegeralarm meldeten und … sich niemand darum kümmerte! Die Menschen tranken in Ruhe ihren Kaffee aus oder gingen ungestört den Weg entlang. Jeder verrichtete weiterhin seine Arbeit, als ob nichts wäre. „Nun ja“, meinten sie „was sollen wir denn anders tun? In den Keller zu flüchten ist seit Mariupol keine Alternative, denn dort sind bei dem Beschuss die Häuser eingestürzt und haben die Menschen in den Kellern lebend begraben.“ Und so nimmt man einfach das Risiko auf sich und lebt in einer neuen Realität weiter. Am kommenden Tag erfährt man dann jeweils mehr. So auch wir. Wir erfuhren von unseren Leuten daheim, dass tatsächlich ein Angriff erfolgt sei. Zwei vom Schwarzen Meer aus abgefeuerte Raketen hätten Odessa getroffen. Es gäbe Verletzte. (Panik: „Geht es Euch denn gut?!?“) Gemerkt hatten wir vor Ort allerdings nichts. Wir tranken unseren Morgenkaffee in Ruhe weiter. Wir hatten uns angepasst.
„Was sollen wir denn anders tun?“ könnte sogar als Motto über dem Leben der Menschen in Odessa stehen. Sie gehen ihren Tätigkeiten nach, wie eh und je. Drei Monate lang hätte das Leben nach dem Überfall ausgesetzt, aber irgendwie musste es jetzt weiter gehen. Zwar sieht man auf den Straßen weit weniger Bewegung als früher, aber jeder geht zur Arbeit und genießt die Freizeit. Die Lebensmittelläden sind gut bestückt, Benzin und Diesel sind vorrätig und Wollsocken erst gar nicht notwendig. In den Gästezimmern der Sankt-Paul-Kirchenzentrale war es warm und angenehm, das Internet funktionierte einwandfrei. Sogar in der Oper – dem Wahrzeichen von Odessa - konnten wir ein Konzert besuchen, danach mit Freunden neben der Deribasowskaya-Straße Solyanka und Wareniki essen. Lediglich die Potemkin’sche Treppe war für uns nicht zugänglich, da das ganze Hafengebiet militärische Sperrzone war. Sandsäcke, Zäune und militärische Posten mit Gewehr im Anschlag versperrten uns den Weg. Nach dem Sockel der Statue der Zarin Katharina hörte der frei begehbare Teil der Stadt auf. Auf dem Sockel wehte einsam eine ukrainische Fahne. Die Zarin selbst musste weichen. Von den Odessiten wurde sie mit Russland identifiziert.
Die DELKU versucht in diesen bewegten Zeiten dort, wo es notwendig ist, präsent zu sein. Alexander Gross, Pfarrer und Synodenpräsident war die ganze Zeit über unser bemühter Gastgeber. Ihn sekundierte Alexander Zhaakon, Diakon in Odessa. Wir durften nicht nur im Sankt-Pauls-Zentrum wohnen, sondern dort Kirche, geschichtliche Ausstellung, Kanzlei und soziale Projekte besuchen. Den Parkplatz teilten wir uns mit Jeeps der Vereinten Nationen. Wir bemühten uns, die komplizierte Sachlage dieser Kirche zu verstehen, die sich die konfessionelle Nische mit der Brüdergemeinde des Viktor Gräfenstein, der Fraktion des ehemaligen Bischofs Maschewski sowie mit der liturgisch speziellen Ukrainisch-Lutherischen Kirche teilt. Der Bruch zwischen konservativ und liberal ist unüberwindlich. Die ungarischsprachige reformierte Kirche in Transkarpatien ist gedanklich und sozial so weit weg, dass die Leuenberger Konkordie ein ferner Konvergenzpunkt bleibt. Bei einem Besuch in den ehemaligen deutschen Dörfern Petrodolinska (Peterstal) und Nowogradiwka (Neuburg) konnten wir uns auch dem Geist der Kirche annähern, die zu einer „post-posttraditionellen“ Kirche geworden ist. Die wenigen volksdeutschen Gemeindeglieder, die bei der Neugründung nach 1990 noch anwesend waren, sind bald in ihre Urheimat ausgesiedelt. Ihnen folgten in Schüben die hinzugekommenen Freunde der Kirche und der westlichen Kultur. Diese waren spätestens mit Kriegsausbruch weg, nicht nur als Flüchtlinge, sondern wohl für immer. Geblieben sind die einfachen, im ukrainischen Kontext verwurzelten Menschen, für die die Kirche ein sozialer Rettungsanker ist. Sowohl in Petrodolinska als auch in Nowogradiwka sind neue, lutherische Kirchenlein gebaut worden, welche Menschen aus dem religiösen Niemandsland einladen. Zur Gemeinde wird nur gezählt, wer regelmäßig zu Gottesdienst und Abendmahl kommt. „Karteileichen“ gibt es keine. So werden Flüchtlinge und Nachbarn nicht nur sozial betreut, sondern auch missionarisch zum Gottesdienst und Konfirmandenunterricht eingeladen. Wie die zehn, fünfzehn Mitglieder zählenden Gemeinden aber eine Stabilität und Kontinuität erreichen werden, liegt in Gottes Hand. Volkskirche - worauf das „Deutsch“ in DELKU hinweisen würde - sieht auf alle Fälle anders aus. Die Kirche lebt nicht von den Gemeinden, sondern von den Amtsträgern her. Pfarrer Alexander Gross ist, da deutsch- und englischsprachig, ein Dreh- und Angelpunkt für viele ökumenischen und internationalen Kontakte geworden.
Grundlegend anders als persönlich erlebt, sieht die Situation in den Frontgebieten aus, wohin die DELKU regelmäßig Hilfstransporte fährt. Obwohl diese zum Teil nur 200 km weg sind, ist dort eine andere Welt, eine Welt voller Angst und Entbehrung. Schwere Geschichten mussten wir aus den Gesprächen mitnehmen. Die Monate der russischen Besatzung haben traumatische Wunden hinterlassen. Und heute? Die kirchlichen Helfer fahren unter Lebensgefahr in die Dörfer am Dnjeper. Sie tun es nur nachts mit ausgeschalteten Frontleuchten, um nicht zur Zielscheibe der Drohnen zu werden. Beschuss von dem anderen Flussufer erfolgt regelmäßig. Gebetet wird von den Menschen regelmäßig: allerdings nicht allgemein für Frieden, sondern eindeutig für einen gerechten Frieden.
Was unserem Besuch einen hohen Stellenwert verliehen hat, war die Tatsache, dass er für die Kirchenkanzlei der erste internationale Besuch seit 2019 gewesen ist. Zuerst kam die Pandemie, dann der Krieg. Beide hielten Besucher ab. Deshalb wurde auf unser Kommen mit großer Freude reagiert. Nach unserer Abreise hatte sich aber schon gleich ein zweiter Besuch angesagt, eine Delegation der Lutherischen Kirchen aus Deutschland. In der Kommunikation mit unseren „Nachfolgern“ konnten wir erfahren mitteilen: „Die Wollsocken könnt Ihr getrost daheimlassen!“
Dr. Stefan Cosoroabă