Vom verlorenen Schaf und Groschen
Das geistliche Wort für den Dritten Sonntag nach Trinitatis (20. Juni 2021) kommt aus dem Kirchenbezirk Mühlbach. Dechant i.R. Pfr. Gerhard Wagner aus Karlsburg hat uns seine Gedanken zu Lukas 15,1-10 zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.
Starke Bilder prägen diese Perikope: Die Menschen sind Zöllner, Sünder, Pharisäer, Schriftgelehrte; ein jeder mit seinem klar abgegrenzten Platz in der Gesellschaft. Bis in die Kleidung hinein wird das sichtbar, Vermischung ist nicht angesagt; es ist schwer oder gefährlich, seinen Platz zu wechseln, zu verlassen oder zu verlieren.
Und nun kommt der Mensch gewordene Gott und sagt, dass alle Menschen Schafe sind, Schafe seiner Herde, ohne jeden Unterschied. Von hundert irrt eines von der Herde ab, hat sich verlaufen, ist verloren. Aber es wird dadurch nicht zum Reh oder zur Antilope, deren Platz die Wildnis ist, sondern es bleibt weiterhin ein Schaf der Herde, das gesucht und zurückgebracht werden muss.
Oder, sagt Gottes Sohn weiter, die Menschen sind alle Silberstücke, geprägte Groschen, im Besitz einer einzigen Person. Wenn nun einer vom Tisch fällt und unter das Bett oder den Schrank rollt, ist er damit noch nicht herrenlos oder selbständig, sondern bleibt Teil des genannten Vermögens. Darum muss er gesucht und gefunden werden.
Unser Heiland nimmt damit die kleinen Zäune weg, die Zäune unserer Handlungen und Einstellungen, mit denen wir uns gerne von andern abgrenzen. Schafe einer Herde, Groschen in einem Beutel nennt er uns, alle gleich. Im Übrigen lässt er die Zustände aber sehr stabil: von hundert verirrt sich bloß eines und von zehn geht nur einer verloren. Davon können wir nur träumen.
Denn heute stellen wir fest, dass die ganze Herde versprengt ist und von hundert Schafen nur noch fünf beim Hirten sind, dass die Groschen alle am Boden verstreut liegen und der Tisch umgeworfen wurde. So sieht’s nur nach Katastrophen aus, davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Wie soll da ein Hirte, eine Hausfrau wieder zusammenbringen, was zusammengehört?
Bei den leblosen Groschen mag das ja noch gehen, aber geht es auch bei Schafen? Wenn diese gar zwei Beine und eigene Vernunft haben und auf Selbstfindung und Mündigkeit aus sind? Soll der Hirte die fünf verbliebenen allein lassen und den verstreuten nachlaufen? Da passiert es manchmal, dass er sieben Verlaufene beieinander findet, die zu ihm sagen: Wir sind die Herde, du aber bist nicht unser Hirte. Was dann? Andere hüpfen munter über Stock und Stein in der Annahme, jedermann würde sie für Gämsen halten, und übersehen, dass sie immer noch schutzbedürftige Schäflein sind.
Was soll der Hirte tun? Wenn er die fünf verbliebenen allein läßt, fühlen diese sich verlassen, während die umherirrenden gar nicht unbedingt gerettet werden wollen, denn sie fühlen sich wohl im Dickicht, wo sie nach Herzenslust sie selber sein können. Schwierige Fragen, schwierige Aufgaben in einer unsicheren Zeit, wo es noch nicht deutlich ist, ob die Katastrophe schon ein Ende hat. Unter solchen Umständen entgehen Schafe der Schlachtbank oder dem Wolfsriss vielleicht eher, wenn sie einzeln und auf sich gestellt sind.
Amen.