"Wir sind gerufen aus uns herauszukommen und aufeinander zuzugehen"
Im Folgenden geben wir die Predigt wieder, die Bischof Reinhart Guib während des Hauptgottesdienstes am Sonntag, 22. September 2019, dem 14. Sonntag nach Trinitatis anlässlich des 29. Sachsentreffens und des Nordsiebenbürgen-Treffens in Bistritz zu 1.Mo.28.10-19.a (I) gehalten hat.
Liebe Siebenbürger und werte Freunde von nah und fern, liebe Nordsiebenbürger Sachsen, liebe Festgemeinde!
Sind wir gewahr welch große Gnade und Geschenk es ist uns heute wiederzusehen und Gemeinschaft zu erleben, hier in Bistritz? Besonders wenn wir bedenken was alles in den letzten 80 Jahren geschehen ist. Der II. Weltkrieg der vor 80 Jahren begann und eine Schneise der Verwüstung, Millionen Tote und unaussprechliches Leid über unsere Gemeinschaft, unser Land, Europa und die Welt gebracht hat. Wir sind daran mitschuldig geworden. 75 Jahre sind es nun her seit eure Familien und unsere Gemeinden in Nord- und teilweise in Südsiebenbürgen evakuiert wurden. Die Angst vor der nahenden russischen Armee trieb sie zur Flucht. Eine Flucht die das Leben mancher Schwester, Mutter, manchen Freundes gekostet hat und die gebrochene Herzen bei manchem Bruder, bei der Liebsten, bei den Hinterbliebenen hinterlassen hat. Damit hörte das Leid nicht auf. Einige mussten zurück, andere neu anfangen im Oberösterreichischen und in Deutschland, um Nürnberg und in Drabenderhöhe und vielen anderen Orten und das unter schwersten Bedingungen. Im Januar 1945 setzte dann die Deportation der Deutschen Rumäniens in die Sowjetunion ein. Weitere Menschenleben wurden zerstört und Familien in bitterste Not und Armut gestürzt. Enteignung und Entwürdigung, Bespitzelung und Einschüchterung, Angst und Misstrauen, Mangel und Not, Sehnsucht nach Familienzusammenführung und Freiheit wurden im kommunistischen Regime ständige Begleiter, bis der Dezember 1989 anbrach. Dann brachen alle Dämme. Die siebenbürgische Gemeinschaft zerstreute sich abermals in alle Winde und daheim in Siebenbürgen blieben nur noch einzelne Familien, kleine Gemeinden, vom Ende bedroht. Erst wenn wir Kostbares wie die Gemeinschaft und die Heimat verlieren erkennen wir ihren unschätzbaren Wert. Im einen Europa haben wir in den Jahren seit 2007 das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder entdeckt. Aufgetürmte Grenzen zwischen uns konnten wir nach und nach überwinden. Wenn vor Jahrzehnten das Motto „einsam – denken – bauen“ eher für unsere getrennte Gemeinschaft gepasst hätte so sind wir inzwischen gewachsen und gereift zum „gemeinsam – gedenken – aufbauen“. Diesem dreifachen Gedanken nachzugehen will uns das Motto des 29.Sachsentreffens anregen.
Merkwürdig – dies Motto findet sich auch in der Bibel wieder und gerade auch in der heute verlesenen Flucht-Geschichte aus dem 1.Buch Mose. Tausende Jahre vor uns war ein Mann mit Namen Jakob auf der Flucht, um sein Leben, seine Zukunft zu retten. Vor seinem Bruder Esau, den er um den Segen betrogen hatte flüchtete er in ein fremdes Land. An einer Stätte schlug er sein Nachtlager auf. Er schlief ein und sah im Traum die Himmelsleiter mit Gott obendrauf und den Engeln rauf und nieder steigend. Er erfuhr in höchster Not die Nähe Gottes und die Zusage, dass Gott mit ihm sein wird, ihn behüten, segnen und mehren und sicher ins Land führen wird. Als Dank baute er den Stein auf dem sein Haupt gelegen hatte zum Gedenkstein auf. Er wird sich gedacht haben: Die Beziehung mit Gott aufbauen ist wichtig. Für ihn flossen Gedenken und Aufbauen zusammen. Auf seinem Lebensweg wurde dann die Gemeinschaft immer wichtiger, er gründete eine Familie, versöhnte sich mit seinem Bruder und wurde zum großen Volk. Er achtete und setzte sich für die ihm Anvertrauten ein. Er glaubte und vertraute Gott. Diese zweifache Gemeinschaft wurde zur Grundlage in guten wie schweren Zeiten.
Mit großem Gottvertrauen, das Gott mit ihnen sein wird, haben der überwältigende Teil der nordsiebenbürgischen Vorfahren vor 75 Jahren den Fluchtweg nach Westen eingeschlagen. Auch die Verbliebenen wussten sich daheim von Gott nicht verlassen. Die Flüchtenden wie die Zurückgebliebenen wurden aufs schwerste geprüft. Bald waren Verluste zu beklagen, unter denen die auf dem Weg waren und denen die abgefangen wurden und zurückkehrten und denen die im Jan.45 aus den Gemeinden deportiert wurden. Und dennoch, das was sie auf dem Weg und in der neuen Heimat zusammenhielt bzw. hier in Siebenbürgen als kleine Gemeinschaft stärkte war ihr gemeinsamer Glaube, ihre gemeinsame Sprache und Geschichte, ihr Gemein-schaftssinn und Überlebenswillen. Die erfahrene Bewahrung und Hilfe, Solidarität und Mitmenschlichkeit von Menschen die es auch nicht leichter hatten überwog bei weitem für die Gegangenen, die Deportierten und die Daheimverbliebenen gegenüber dem auch erlittenen Misstrauen und Hass einiger. Die Jahre vergingen.
Mit Dankbarkeit im Herzen und neuem Mut und Kraft konnte Gemeinschaft und Heimat wieder gefestigt, erhalten und aufgebaut werden.
In Österreich neue Gemeinden gegründet oder wie im Nürnberger Raum und in Drabenderhöhe die Gemeinden vor Ort verstärkt und eine neue Existenz aufgebaut werden. Hier wurde mit großen Anstrengungen das Zusammenbleiben und Erhalten von Volk und Kirche verfolgt. Erst Jahre nach der Wende als Gehen und Bleiben nicht mehr als Vorwurf zwischen uns standen und hüben wie drüben sich die Wogen geglättet und die Lage stabilisiert hatten, bekamen Gemeinschaft und gemeinsames Gedenken und Aufbauen eine neue Chance. Alles braucht seine Zeit, liebe Schwestern und Brüder. Gott schenkt uns die Zeit. Gepriesen sei sein Name.
Seit 2007 ist das grenzüberschreitende Miteinander wieder Wirklichkeit. Rumänien auch Mitglied in der EU. Europa macht vieles möglich und leicht. Aber der gute Wille, das Ablegen von Ressentiments, das Besinnen auf die Werte die uns verbinden, das Erinnern an die gelegten Gedenksteine, wie das Flucht-Denkmal am Dominikaner-Platz in Bistritz, das Anpacken und neu Aufbauen, das Weitersehen und Träumen in die Zukunft - das vertraut Gott uns an. Dazu lädt er uns ein.
Jakob wurde von Gott herausgefordert aus dem Vergangenen zu lernen und neue Wege zu gehen. Um versöhnte Gemeinschaft mit seinem Bruder zu erleben. Um den Segen Gottes zu empfangen. Um sein Volk den Weg mit Gott zu führen.
Auch wir sind gerufen aus uns herauszukommen und aufeinander zuzugehen. Das gemeinsame Gedenken an die unterschiedliche, aber allemal schmerzliche Geschichte vor 75 Jahren und ihre verheerenden Auswirkungen will uns solidarisch machen. Die gemeinsamen Trauerorte und Steindenkmäler in Bistritz und Reen, Hermannstadt und Mediasch und vielen weiteren Orten können uns wieder zusammenführen und ausrichten. Die leidvolle Geschichte der Trennung zwischen Ost und West die quer durch unsere Gemeinschaft verlief ist Anlass zum Wiedersuchen – und Finden des Verlorenen, des Wertschätzens dessen was der andere in unsere Gemeinschaft an Erfahrung und Wissen, an Gaben und Qualitäten, Liebe und Glauben mitbringt.
Es gilt aber auch nicht verkrampft an der Vergangenheit hängenzubleiben. Auf das wieder - gemeinsam in die Zukunft sehn und miteinander träumen - kommt es heute an. Mit unserem Strategiekonzept „Aus Glauben Leben in Gemeinschaft gestalten“ und den landeskirchlichen Projekten „Glauben und Gedenken“, „12 Apfelbäumchen für ein klares Wort“ und „Gesichter, Grenzen, Geschwister“ ist es uns in den letzten Jahren ein Anliegen diesen Prozess zu fördern. Ich freue mich wo der Funke übergesprungen ist auf Gemeinden und Menschen. Bistritz ist zum Vorzeigebeispiel geworden, dass gutes Einvernehmen zwischen Kirchengemeinde und dem Bürgermeisteramt, der HOG, dem Forum und den anderen Kirchen möglich ist und viel Gutes bewirken kann. Die Stadt und bald auch die Kirche zu Bistritz mit ihrem restaurierten Gesicht und Struktur lassen erahnen was gemeinsamer Wille, Kräfte und Zielstrebigkeit alles vermögen. Wie gemeindlich-regionale Zukunft aussehen kann ist an den acht Gemeindeverbänden, die Stadtgemeinden und kleine Diasporagemeinden zusammenschließen und mehr und mehr zu Regionalgemeinden zusammenwachsen, abzulesen. Das Aufbauen geschieht auch im Kleinen, mit jedem Gottesdienst, in der Kirche, im Gemeinderaum, in den Häusern, jeder Begegnung und jedem Gespräch, die von Liebe und Glauben getragen sind. Mit dem treuen hingebungsvollen Arbeiten und mit einem Auge für das Gemeinsame. Mit dem Hinsehen und Anpacken wo Not tut und Hilfe weiterbringt. Im Heran-ziehen der Kinder zur Kirche und Schule. Im sanften Begleiten der Jugend um Sinn und Gemeinschaft zu finden. Im Beistehen der Menschen in ihren existenziellen Fragen. In der Fürsorge für die Alten und Kranken. Im Achten auf den Nächsten neben mir, ganz gleich ob er Sachse, Rumäne, Ungar, Zigeuner, Deutscher, Österreicher, türke oder Syrer ist. In all dem und vielem weiteren mehr ist der Segen Gottes zu spüren. Und die Hand an der wir geführt werden. Wie einst Jakob. Wie unsere Vorahnen vor 75 Jahren. Unsere Eltern und wir vor 30 Jahren. Wir und unsere Kinder und Enkel heute. Dafür dürfen wir Gott „Danke“ sagen.
Liebe Festgemeinde! Es ist eine große Gnade und Geschenk uns heute und hier in Bistritz wiederzusehen und Gemeinschaft zu erleben. Der Wochenspruch fasst die Gedanken zur Dankbarkeit schön zusammen. Wir dürfen sie uns leihen und gemeinsam sprechen: „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ Wir haben großen Anlass zu danken, dass Gott uns vom „einsam – denken – bauen“ zum „Gemeinsam – Gedenken – Aufbauen“ geführt hat. Das ist nicht selbstverständlich, sondern große Gnade.
Bei allem „Gemeinsam - Gedenken – Aufbauen“ hat Jakob um den Segen Gottes gerungen. Sein etwas später getaner Ausspruch: „Ich lasse dich nicht du segnest mich denn“ kann auch uns Anreiz sein zu glauben und zu bekennen, zu ringen und zu leben, was wir eingeladen sind zu singen: „Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir“.
Amen!
Bischof Reinhart Guib
1.Mo.28.10-19.a (I) – 14.So.n. Trin. – 29.Sachsentreffen u. Nordsiebenbürgen-Treffen