Predigt Bischof Reinhart Guib (Gal. 5,25-6,10)
Rosenau/Seewalchen (Österreich), 28. IX. 2014
Liebe Gedenkgemeinde,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,
zum Erinnern und Gedenken, zum Fest des Glaubens und des Dankes sind wir gestern von überall her nach Wels und heute nach Seewalchen in großer Gemeinschaft zusammen gekommen. Da ist es wichtig, nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in die Tiefe unserer uns verbindenden christlichen Gemeinschaft zu gehen. In den Bibelworten des Sonntags steht im Hintergrund die Frage: Wie wir Menschen leben? Wie wir mit einander umgehen? Das war eine existentielle Frage für den Apostel Paulus im Hinblick auf die Gemeinden in Galatien. Wie gehen wir mit Schuld, mit Leid, mit der Not des Nächsten, des Bruders, um? Denn wir sind doch alle Christen! So selbstverständlich dieser Satz klingt, war es zur Zeit des Paulus nicht und auch vor 70 Jahren nicht. Der Glaube hat nicht nur ein Bekenntnis unseres Herzens und unserer Lippen zu sein, sondern will auch durch Taten bezeugt werden. Das ist nicht so leicht, wenn es um zwei verschiedene Traditionen von beschnittenen und unbeschnittenen Christen in Galatien vor 2000 Jahren ging, oder um zwei gegensätzliche Religionen wie das des Christentums und der deutschen nationalsozialistischen Religion vor 70 Jahren. Viele, Gott sei Dank, nicht alle unserer Siebenbürger Sachsen, österreichischen und deutschen Vorfahren sind der Versuchung anheim gefallen und haben sich mit Worten und Taten an der christlichen Botschaft und Wahrheit verfehlt. Darum haben wir besonderes als deutsche Volksgemeinschaften Gott, soweit noch möglich die anderen und einander um Vergebung zu bitten. Denn unsere Geschichte in den 1940er Jahren ist eine Leidensgeschichte und eine Schuldgeschichte zugleich. Eine Geschichte, die mit der Evakuierung dramatische, gemeinschafts-, Familienherz- zerreißende Ausmaße angenommen hatte. Verlassen in der Heimat die einen, auf der Flucht in die Fremde die anderen, nahm das „in Geist leben und wandeln“ und „einander Lasten tragen helfen“ wie es der Apostel benennt, ja das wahre Christentum und die nachbarschaftliche Hilfe, die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen wieder zu. Wie so oft in der Geschichte, in der Kirchengeschichte musste man tief ins Leiden hinab, um wieder zum wahren und lebenswerten Leben zu finden.
Mit der Anrede „Liebe Brüder“ wird deutlich – um den Bruder und um die Schwester, den Menschen, ging es dem Apostel Paulus. Dieser ganze Abschnitt an die Galater ist eine Einladung, ein Aufruf, ja noch mehr eine Mahnung zur Brüderlichkeit. Besonderes in schweren Zeiten, in Konflikten, in der Not, Krise, wenn es um Leben und Tod geht, zeigt jeder sein wahres Gesicht. Da hat gewiss so mancher an der Front, auf der Flucht, in der Deportation die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele kennengelernt, aber auch wunderbare Hilfe in Errettung erfahren. Dass der größte Teil unserer Landsleute vor 70 Jahren, wenn auch ausgemergelt, aber lebendig und voller Hoffnung in Österreich und Deutschland angekommen ist, darf uns zur Dankbarkeit gegenüber Gott bewegen. Denn nichts war selbstverständlich. Alles Wichtige – das Leben, der Glaube, die Familie, die Gemeinschaft, eine neue Heimat waren Geschenk. Gewiss eine harte Zeit, harte Arbeit waren zunächst auch in Österreich und Deutschland und Siebenbürgen an der Tagesordnung, aber in allem wusste man sich getragen. Die mitgezogenen oder in Siebenbürgen verbliebenen Pfarrer predigten das Evangelium von der Gnade Gottes, dem Getragensein und gegenseitigen Beistand. Dietrich Bonhoeffer schrieb als bekennender evangelischer Christ noch vor seiner späteren Hinrichtung durch die Nazis: „So ist das Gesetz Christi ein Gesetz des Tragens. Tragen ist ein Erleiden. Im Erleiden der Menschen hat Gott Gemeinschaft mit ihnen gehalten. Es ist das Gesetz Christi, das im Kreuz in Erfüllung ging. An diesem Gesetz bekommen die Christen teil. Sie sollen den Bruder tragen und erleiden, aber, was wichtiger ist, sie können nun auch den Bruder tragen unter dem erfüllten Gesetz Christi.“ In diesem Sinne erinnere ich mich an ein Plakat von Brot für die Welt, auf dem ein größeres Kind sein Brüderchen trägt und sagt: „Ich trage keine Last – ich trage meinen Bruder.“
Das was euch liebe Gotteskinder, Brüder und Schwestern Jesus Christi hier in Österreich und Deutschland auf und nach der Flucht , wie auch die in Siebenbürgen Verbliebenen kennzeichnete, war das unerschütterliche Gottesvertrauen und dies nachbarschaftliche, ja brüderliche Tragen und Beistehen. Das hat große Tradition in unserer siebenbürgischen Kirche. In den Strukturen der Nachbarschaft und direkt von den Kirchengemeinden wurde die sozial-diakonische Komponente eines Lebens im Geist Jesu Christi über die Zeiten wahrgenommen.
Schon im Mittelalter bauten Pflegeorden wie der Hospitalier und der Kreuzträger vom heiligen Geist Spitäler und Siechenhäuser in unseren siebenbürgischen Städten. Im Zuge der Reformation wurden diese Spitäler zu kommunalen Einrichtungen. 1861 wurde auch in Siebenbürgen eine Zweigstelle des Gustav-Adolf-Werkes als Hilfswerk zur Unterstützung evangelischer Gemeinden in der Diaspora, also zum guten Tun an den Glaubensgenossen wie Paulus es fordert, gegründet. Es hat zu vielen Hilfsleistungen im Land wie in ganz Europa, besonderes beim Kirchbau in Siebenbürgen wie auch in Österreich, beigetragen, bis es 1948 vom kommunistischen Regime zwangsaufgelöst wurde. Seit 2002 haben wir es wieder als gesamtprotestantisches Werk in Rumänien ins Leben gerufen und unterstützen Projekte an Glaubensgenossen im In- und Ausland.
Im 19. Jahrhundert entstanden auch in Siebenbürgen zahlreiche kirchliche Stiftungen, die sozial-karitative Funktionen erfüllten. Auf Initiative des Bischofs Friedrich Müller dem Älteren wurden siebenbürgische Lehrschwestern in Weimar ausgebildet, die dann in der Krankenhaus- und Gemeindepflege in Hermannstadt, in Privatsanatorien und kommunalen Krankenhäusern der Region arbeiteten.
Nach der Evakuierung und Deportation hat der kommunistische Staat die Einrichtungen der Anstaltsdiakonie in Siebenbürgen aufgelöst, aber die Nachbarschaftspflege und Gemeindediakonie konnte in Siebenbürgen wie auch in den Flüchtlingslagern in Österreich und Deutschland weiter geübt werden. Das war ein Segen und existentielle Hilfe in vielen Notlagen. Während in Österreich nach und nach die evangelische Kirche Gutes tat an den Glaubensgenossen und die Kommunen mit der Stadt Wels als Vorreiter und die österreichischen Bundesländer, vornämlich Oberösterreich, sich der Flüchtlinge annahmen, sie unterstützten, integrierten und mit ihrer Hilfe das Land wieder aufbauten, waren die Gemeinden in Siebenbürgen zunächst auf sich gestellt. Für die Unterstützung der wegen der Deportation zuhause verbliebenen Kinder sowie für die verarmten Heimkehrer wurden Sammlungen organisiert. Gemeindeinterne Ausschüsse wurden von den Presbyterien gebildet, um hilfsbedürftigen Seelen zu helfen. Mit der Zunahme der Lebensmittelkrise Mitte der 70er Jahre haben viele Familien, auch meine, Unterstützung von Menschen aus dem Westen empfangen.
Ihr Siebenbürger setzt Euch privat besonderes über die Heimatortsgemeinschaften und das Hilfskomitee und das Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen ein. Mitsamt Kirchengemeinden und Vereinen aus Österreich und Deutschland schuft ihr Hilfskanäle, durch die ihr euch bis heute für die Glaubensgenossen in Siebenbürgen einsetzt, für die Kinder, für Alte, Kranke, Hilfsbedürftige aller Art. Viele Millionen Tonnen von Lebensmitteln, Bekleidung, Medikamenten und Geld zeigten uns, was den-anderen- Bruder-tragen heißt. Brüderlichkeit habt Ihr hier in der neuen Heimat und wir in Siebenbürgen besonderes in den letzten 30 Jahren auf vielfältige Weise erfahren und dafür sind wir dankbar. Weil wir so viel Hilfe erfahren haben, hat uns das beflügelt, auch anderen zu helfen, die es heute noch nötiger haben.
2014 haben wir das Jahr der Diakonie in der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. So gibt es heute rund 70 kirchliche Initiativen und Einrichtungen in unserer Kirche, die sich in den Dienst der bedürftigen Glaubensgenossen stellen. Inzwischen helfen wir, dank weiterer Unterstützung aus dem Ausland, auch anderen ethnischen, sprachlichen, religiösen Gruppen und Menschen. Den Bruder tragen und Gutes tun, kennt keine Grenzen mehr zwischen uns Christen im heutigen Europa.
Bei der gestrigen Eröffnung der Ausstellung „Glaube und Gedenken“ der Evangelischen Kirche in Rumänien sprach ich von den mitgenommenen und bewahrten Werten des Glaubens, der Frömmigkeit, der Gemeinschaft, der Kirche, der Geschichte, der Bildung und der Traditionen, wobei gerade in der Mitte der Wert der Diakonie, der Nachbarschaftspflege und Brüderlichkeit, des Guten tun an Glaubensgenossen zum Stehen kommt. Dieser Wert und die Almosenbüchse, die ihn symbolisiert, habe ich heute besonderes beleuchtet.
Liebe Brüder und Schwestern! Wie leben wir? Wie gehen wir miteinander um? fragte Paulus sich und die Gemeinde in Galatien. In der Nachfolge Jesu Christi sind auch wir zum Zeugnis ablegen gerufen:
Erinnern wir uns der großen Gaben Gottes und der Werte, die uns unsere Vorfahren mitgegeben haben.
Gedenken wir der Geschichte von Schuld und Leid vor 70 Jahren, um daraus immer wieder neu Vergebung und Auferstehungskräfte zu empfangen.
Feiern wir das Fest des Glaubens jeden Tag neu in der kleinen und großen Gemeinschaft in der wir als evangelische Christen überall verbunden sind.
Das Fest des Dankes über erfahrenes Getragensein und Gnade verleihe uns Phantasie und Tatkraft für die Brüder und Schwestern, die uns brauchen, und allermeist für die Glaubensgenossen.
So möge uns alle der Dreieinige Gott segnen und auf dem Weg in seine Zukunft mit uns geleiten. Amen.