Predigt Stpfr. Bruno Fröhlich (Jes. 43,14-15.18-19.21)

Dechant Stpfr. Bruno Fröhlich

Stadtkirche Karlsruhe, 6. I. 2015

Liebe Schwestern und Brüder!

I. Die Pilgerreise „Glauben und Gedenken“ hat sich für ihre Stationen – von denen wir heute die vorletzte erreicht haben – jeweils zwei Themen gesetzt. Diese sind – gleichsam den beiden Brennpunkten einer Ellipse – dazu angetan, ein Stück Geschichte der Vergessenheit zu entreißen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Einerseits rufen wir uns das Schicksal von den ca. 75.000 Rumäniendeutschen (30.000 davon waren Siebenbürger Sachsen) in Erinnerung, welche zwischen dem 13. und 15. Januar 1945 in die damalige Sowjetunion deportiert wurden. Daneben ist heute das Thema »Bildung«, Gegenstand unseres Nachdenkens. Dass wir als kleine Gemeinschaft auch dank unserer Bildung (oder besser gesagt: dank unseres Bildungswesens) über Jahrhunderte überlebt haben, ist bekannt. Doch diese Thematik kann in einer Predigt nicht ausschöpfend behandelt werden und ist im Anschluss an diesen Gottesdienst, Gegenstand eines eigenen Vortrags (von Dekan i. R. Hermann Schuller). Wozu ich einladen möchte ist, die beiden Themen miteinander zu verknüpfen und die Deportation selber als Gegenstand von Bildung (historischer und theologischer Natur) anzusehen.

II. 1. Wenn ich über die Deportation unserer Vorfahren als historisches Ereignis nachdenke, dann kommen bei mir Kindheitserinnerungen hoch. Es sind die Erzählungen meiner Großmutter (welche selber deportiert war), die mich als Heranwachsenden mit diesem Kapitel unserer Geschichte vertraut werden ließen. Was ich hörte, war das, was man heute als „oral history“ bezeichnen würde; Begebenheiten aus subjektiver Betroffenheit im engsten Familienkreis erzählt, da öffentlich im damaligen kommunistischen Rumänien darüber nicht gesprochen werden durfte. Der Inhalt dieser Geschichten kreiste um drei Dinge: 1) Die schlechte und immer unzureichende Nahrung. 2) Die extrem schwere Arbeit bzw. die unmenschlichen Arbeitsbedingungen (z. B. untertage in kniehohem Wasser oder im Freien bei zweistelligen Minusgraden). 3) Der bedrückende Lageralltag mit allem was dazugehört: zusammengepferchtes Wohnen in Baracken, die Seele geplagt von Traurigkeit und Heimweh und der Körper geplagt von Läusen und Wanzen. Etwa 15 % der Deportierten haben diese Strapazen NICHT überlebt die andern sind für den Rest ihres Lebens davon geprägt worden. Was mir jedoch rückblickend auffällt ist, dass in diesen Erzählungen die Schuldfrage, oder die Frage der Verantwortlichkeit für all das Geschehene eher am Rande zur Sprache kam. Vor allem aber war aus diesen Geschichten nie ein Groll gegen die ortsansässige russische bzw. ukrainische Bevölkerung heraus zu hören. Im Gegenteil: immer wieder hieß es, dass es den Einheimischen bei weitem schlechter gegangen sei, als den Deportierten. Auch die Lageraufseher (die berühmt–berüchtigten «Natschalniks») wurden differenziert beschrieben. Manche schafften es auch unter den Bedingungen, ein menschliches Angesicht zu bewahren. Mitunter waren es Mitdeportierte, Leute aus den eigenen Reihen – die sich schnell angepasst, russisch gelernt und sich den Behörden als Gehilfen angebiedert hatten – welche, gefürchteter waren, als die russischen Beamten selber. Das Fazit aus diesen Erzählungen war, dass dort Gott am Werk gewesen ist: einerseits mit starker Hand, zugleich aber in seinem unermesslichen Erbarmen. Damit kommen wir zum theologischen Aspekt.

2. In der theologischen Aufarbeitung der Deportation kann uns das Alte Testament zur Verstehens- und Deutungshilfe werden. Einige seiner Bücher sind gerade in der Auseinandersetzung mit Gefangenschaft und Flucht; Krieg und Verschleppung entstanden. Nicht zufällig dienen uns als Predigtwort Verse aus dem Teil des Buches des Propheten Jesaja, welches sich mit der Befreiung und der Heimkehr der Exilierten aus Babylon auseinandersetzt. Man möge bedenken, dass die Gefangenschaft des Volkes Israel 70 Jahre dauerte; d. h. die Mehrheit der Deportierten die Heimkehr gar nicht mehr selber erlebt haben, sondern erst die nachfolgenden (in Babylon geborenen) Generationen. Bemerkenswert ist, wie der Prophet die Deportation bewertet. Einerseits wird sie als Strafe angesehen: u. z. darum weil die Menschen an Gott schuldig geworden waren; sie hatten IHM nicht das nötige Vertrauen entgegen gebracht. Ein immer wieder kehrender Vorwurf ist der, dass Israel von Gott abgefallen war. Doch mit dem Ende der Gefangenschaft ist die Strafe aufgehoben und genau darauf bezieht sich der Prophet, wenn er sagt: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige!“ (V. 18) Andererseits bedeutet Deportation in alttestamentlicher Lesart Zeit der Läuterung, Zeit des In-sich-gehens. Gerade Entbehrung und Einschränkung sollen die Betroffenen dazu animieren, sich selber neu zu finden, sich selber in einem neuen Licht zu sehen. „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (V. 19) Als wichtig und wesentlich hält der Prophet fest: Israel soll dessen innewerden, dass Gott der Urheber dieser Befreiung ist. „Um euretwillen habe ich nach Babel geschickt und habe die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen“ (V. 14). Er ist der Gott, welche die politischen Mächte in ihre Schranken weist („Zur Klage wird der Jubel der Chaldäer“ V. 14). Ziel ist die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk: „Das Volk, das ich mir bereitet habe, soll meinen Ruhm verkündigen.“ (V. 21). Israel hat Gefangenschaft und Befreiung als pädagogische Maßnahme Gottes an seinem Volk angesehen. Es scheint so zu sein, dass gerade in Babylon, Israel zu dem auserwählten Volk herangereift ist, als welches es sich später verstanden hat.

3. Sicherlich ist das Schicksal des Volkes Israel im 6. vorchristlichen Jahrhundert und jenes der Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert nicht in seiner Gesamtheit vergleichbar; wohl aber gibt punktuelle Analogien. Man mag sich gar nicht vorstellen, dass die Deportation unserer Vorfahren genau so lange hätte dauern sollen wie bei Israel, also in diesen Tagen erst ihr Ende gefunden hätte; dieser Gedanke gewinnt vor allem unter den jetzigen Gegebenheiten in der Ostukraine an Brisanz; genau jener Region (Donetzk, Krim) in welcher unsere Vorfahren gewesen sind. Die Deportation währte nicht 70 sondern „nur“ 5 Jahre (oder weniger). Doch mit der Rückkehr war es noch lange nicht getan; es ging aus dem „Regen in die Traufe“. Einige durften gar nicht erst nach Siebenbürgen zurückkehren. Jene, die in die Heimat kamen, wurden dort zu Bürgern zweiter Klasse: entrechtet und enteignet. Es folgte die – 40 Jahre währende – Durststrecke durch die Zeit des Kommunismus. Sie erinnert uns wiederum an ein Kapitel alttestamentlicher Geschichte: nach der Befreiung aus einer ganz andern Gefangenschaft, nämlich aus der ägyptischen, musste das Volk Israel 40 Jahre durch die Wüste wandern, bis es dann in das verheißene Land einziehen durfte. Die vor 25 Jahren gewonnene Freiheit ist nur bedingt mit dem Einzug in das gelobte Land des Volkes Israel vergleichbar. Was aber erreicht wurde, ist nicht kleinzureden: Man darf heute nicht nur öffentlich über die Deportation sprechen und Unrecht beim Namen nennen; der rumänische Staat hat – wenn auch spät – die Betroffenen als politisch Verfolgte anerkannt. Was damals geschehen ist, kann zwar nicht rückgängig gemacht werden; wohl aber können Lehren für unsere Zeit gezogen werden.

III. Es ist schon sonderbar (vielleicht auch ein Stück Ironie der Geschichte), dass jetzt – wenn unsere Gemeinschaft nur noch zu einem Bruchteil in Siebenbürgen lebt – ihre Akzeptanz dort so groß ist, wie sie es vielleicht nie war. Doch genau solche Momente können Gefahren bergen, weil genau dann der Mensch dazu neigt, überheblich zu werden. Aus solchen Denkansätzen können Handlungen folgen, die nicht zu billigen sind. Die Lehre – vor dem Hintergrund, dass es genau umgekehrt sein kann, nämlich dass man als kleine Gemeinschaft oder als Minderheit von einer Mehrheit geächtet wird – (diese Lehre) besteht nach meinem Dafürhalten in zwei Dingen:

1) Mit dem Mitmenschen (unabhängig davon wie sehr er sich nach Ethnie, Kultur oder Weltanschauung von einem selber unterscheidet), ist (mit)menschlich umzugehen. Dass menschliche Würde nicht Verhandlungsgegenstand sein kann, klingt zwar so selbstverständlich, ist aber längst nicht überall angekommen und kann darum nicht oft genug betont werden: nicht nur in den kommunistischen Nachfolgestaaten, sondern auch in festgefügten Demokratien.

2) Gott ist als Urheber unseres Heils zu sehen und ihm ist täglich dafür zu danken. Auch dies sollte dem (Christen)Mensch eigentlich klar vor Augen stehen; manche lernen es aber erst dann, wenn sie Gottes „starke Hand“ spüren und andere wiederum nicht einmal dann. Die Erfahrung – dass auch (oder gerade) in solchen Momenten GOTT in seiner „grenzenlosen Gnade“ dem Menschen zugewandt ist – dürfen wir von den Deportierten, die das bezeugt haben übernehmen und zu der unsrigen werden lassen.

Amen.